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Sport: Gewonnen ist gewonnen

Huub Stevens und die dramatische Nacht von Rostock: Wie Herthas Trainer einen Job behielt, den er schon fast verloren hatte

Von Michael Rosentritt

Rostock. Es läuft die 120. Minute. Die letzte Minute der Verlängerung eines Spiels, das längst entschieden schien. Hansa Rostock führt mit 2:1-Toren gegen Hertha BSC. Irgendwie bekommen die Berliner eine Ecke zugesprochen. Vor dem Rostocker Tor versammeln sich 21 Spieler. Einer fehlt, aber der muss ja die Ecke treten. Marcelinho flankt hoch in den Rostocker Strafraum, so richtig ran kommt keiner. Der Ball landet vor den Füßen Nando Rafaels. Und Herthas eingewechselter Stürmer bringt das Kunststück fertig, eine Lücke zwischen den vielen Leibern zu finden und den Ball über deren Köpfe hinweg ins Tor zu dreschen – es steht 2:2. Der Schiedsrichter pfeift ab. Das Spiel wird im Elfmeterschießen entschieden.

Kurze Pause.

Was ist in diesen letzten 60 Sekunden passiert? Nando Rafael hat Hertha zurück ins Spiel gebracht. Durch ein glückliches Tor. Im Boxen nennt man so etwas „Lucky Punch“, wenn ein Boxer nach Runden und Punkten hoffnungslos zurückliegt, den Kampf eigentlich nur noch mit einem Glückstreffer gewinnen kann, der dem viel zu starken Gegner den Knockout verpasst.

Huub Stevens haben sie an diesem Abend auf der Trainerbank in ihre Mitte genommen. Der lange Kotrainer Holger Gehrke zu seiner rechten, der massige Manager Dieter Hoeneß zur linken. Gegeben wurde auf dem Rostocker Rasen vor halb leeren Rängen Teil zwei des als „Vereinbarung“ getarnten Ultimatums. Teil eins war drei Tage zuvor auf gleicher Bühne mit einem 1:0-Sieg für Hertha/Stevens ausgegangen. Der Trainer aber braucht noch diesen zweiten Sieg, um nicht seine Anstellung zu verlieren. So sieht es die ultimative Vereinbarung vor. Der Beginn ist flott. Bald führt Hertha durch ein Tor von Luizao. Die Fans singen: „Auf geht’s, Hertha“ und „Kämpfen und siegen“. Eine halbe Stunde hören die Berliner zu, dann stellen sie das Fußballspielen ein. In der zweiten Halbzeit fällt das erste Gegentor, das zweite in der Verlängerung, die die Berliner nur dank ihres Torwartes Gabor Kiraly erreichen. Hertha taumelt der Niederlage entgegen. Es scheint, als habe Stevens sich mit der Niederlage seiner Mannschaft und der Trennung abgefunden. Ganz ruhig, fast schon teilnahmslos, sitzt er auf der Trainerbank. Hertha kämpft nicht mit letzter Leidenschaft. Die Spieler zerreißen sich nicht für ihren Trainer. Sicher, einen Ausgleich in einer solchen Situation möchte jede Mannschaft erzielen. Aber nach Wollen sieht es nicht gerade aus, was Hertha bis in die letzte Minute der Verlängerung zeigt. Der Abpfiff naht. Der Schiedsrichter hat bereits die Pfeife im Mund. Zu diesem Zeitpunkt ist Stevens seinen Job los bei Hertha. Noch diese eine Ecke. Nando trifft, und Stevens ist wieder da.

Jubeln mag er nicht. Selbst als die fünf Schützen jeder Mannschaft für das Elfmeterschießen benannt werden müssen, hält sich Stevens im Hintergrund. Erst als das Glücksspiel vom Elfmeterpunkt beginnt, reiht er sich ein in Herthas Riege. An der Seitenlinie stehen er, Hoeneß, Ersatzspieler, Mediziner und Betreuer wie aufgefädelt. Stevens sagt nichts. Auch Gehrke und Hoeneß schweigen in die nasskalte Nacht.

Hoeneß wird später erzählen: „Es gibt keinen erfolgreichen Sportler, der in einen Wettkampf geht und dabei darüber nachdenkt, wie es nach einer Niederlage sein wird.“ Das mag für erfolgreiche Sportler zutreffen, aber die Spieler von Hertha BSC kann er nicht gemeint haben. Nicht an diesem Abend. Die Körpersprache verrät seine Erleichterung. Hoeneß hüpft und hüpft und hüpft, als Torwart Kiraly den entscheidenden Elfmeter hält. Er fällt Stevens um den Hals, klatscht Spieler ab und stürmt mit himmelwärts gestreckten Armen in die Kurve der Hertha-Fans. Dann verlassen die Berliner den Rasen. Auf der folgenden Pressekonferenz sagt Stevens wenige Worte. „Für den Moment bin ich glücklich, aber ich brauche erst einmal Zeit, um das alles zu verarbeiten. Die vergangenen 14 Tage sind nicht spurlos an mir vorbei gegangen.“ Der Manager ist gesprächiger. Vor dem Kabinentrakt wartet Hoeneß darauf, live der Sportschau zugeschaltet zu werden. Dann sagt er „Guten Abend“, und erzählt davon, dass irgendetwas „in jeder Hinsicht gelungen“ sei. Meint er das Ultimatum? Na jedenfalls habe die Mannschaft jetzt zweimal gewonnen und damit „die Chance, die Saison doch noch zu retten“. Hoeneß hätte dem Fernsehen einfach sagen können: „Schwein gehabt.“ Damit hätte er noch am ehesten getroffen, was sich im Ostseestadion abgespielt hat.

Die Spieler laufen teilweise lachend in die Kabine. Eine Etage höher wird Hoeneß umringt. „Man muss schon gesund sein, um das zu überleben“, sagt er. Der Verein sei einen unpopulären Weg gegangen mit dem Ultimatum. Aber die Alternative wäre gewesen, „dass er heute in seinem schönen Haus gesessen und das Spiel vor dem Fernseher erlebt hätte“, sagt Hoeneß. Er – damit ist Trainer Stevens gemeint. Der aber ist längst im Mannschaftsbus hinter den getönten Scheiben verschwunden.

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