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Grün schäumende See mit gelb-roten Wellenkämmen. Bei Heimspielen versuchen die litauischen Fans, den eingeblendeten Lautstärkerekord zu brechen. Foto: AFP

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Sport: Gottesdienst mit Körben

Im EM-Gastgeberland Litauen ist Basketball eine Religion – das werden heute die Deutschen spüren

Die schönste Zeit des Jahres ist da, die Feiertage haben begonnen. Der Gedimino Prospektas ist festlich geschmückt, über der zentralen Einkaufsstraße von Vilnius strahlen nachts leuchtende Basketbälle und Basketballkörbe. Bars locken mit Liveübertragungen aller Spiele der Europameisterschaft, die Spieler der Gastgebermannschaft werben auf Plakaten für Mineralwasser und Schokoriegel, Handys und Laptops. In den Banken liegen Sondermünzen aus, in den Postämtern Sonderpostkarten und Sonderbriefmarken. Eine Ausstellung im Einkaufszentrum unterrichtet über den litauischen EM-Sieg 1939, im Sportgeschäft gibt es nur noch drei Restexemplare des litauischen Trikots, alle in dreifach XL. Basketball ist in Litauen nun mal eine größere Nummer als anderswo. Das wird auch die deutsche Mannschaft zu spüren bekommen, wenn sie heute (20 Uhr, live bei Sport1) gegen die Gastgeber um den Einzug ins Viertelfinale spielt.

Für die meisten der gut drei Millionen Einwohner des kleinen baltischen Landes ist Basketball eine Religion. Der Sport ist so allgegenwärtig in Vilnius, dass es den Besucher beinahe verwundert, dass die in Stein gehauenen Bischöfe und Könige in der Kathedrale am östlichen Ende des Gedimino Prospektas Schwerter, Kreuze und Bücher in der Hand halten – und nicht eine einzige der Statuen dribbelt oder zum Sprungwurf ansetzt. Einige Basketballer werden von ihren Landsleuten trotzdem wie Heilige verehrt. Wie Arvydas Sabonis, Rimas Kurtinaitis oder Sarunas Marciulionis, die Litauen 1992 kurz nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion sensationell zur olympischen Bronzemedaille in Barcelona führten – gegen die UdSSR, was den Sieg doppelt so wertvoll machte.

Basketball war immer zentral für die Identität der Litauer, egal von wem das Land unterdrückt wurde und ob die Besatzer den Gedimino Prospektas gerade nach dem Polen Adam Mickiewicz, nach Hitler, Stalin oder Lenin umbenannt hatten. Diesen Stolz spürt man, sobald in der Arena von Vilnius die Nationalhymne erklingt. Die ohnehin hibbeligen Maskottchen werden noch hektischer, 12 000 Zuschauer stehen auf und singen leidenschaftlich mit, die Tribünen verwandeln sich in eine grün schäumende See mit gelb-roten Wellenkämmen, die auch an den Vip-Boxen nicht brechen. Gegen diese Kulisse müssen die deutschen Basketballer heute anspielen. Falls die Türkei im Spiel zuvor Serbien besiegt, reicht der Mannschaft von Bundestrainer Dirk Bauermann ein einfacher Sieg. Verliert die Türkei, brauchen die Deutschen einen Erfolg mit elf Punkten Vorsprung. „Für solche Spiele lebt man doch als Sportler“, sagt Bauermann. Auch der Berliner Heiko Schaffartzik will sich nicht von der Atmosphäre einschüchtern lassen: „Keiner von uns hat Schiss.“

Das könnte sich ändern, sobald das Spiel heute beginnt. Dann werden die Zuschauer jeden Dreipunktewurf bejubeln und jede Aktion der Deutschen auspfeifen. Besonders laut wird es, wenn zwei moderne Heilige des litauischen Basketballs eingewechselt werden. Der 19 Jahre alte Jonas Valanciunas, das vielleicht größte europäische Talent, spielt mit unbändiger Energie, der Jubel der Fans scheint den 2,10 Meter großen Center jedes Mal noch größer und breiter zu machen. Valanciunas ist der jüngste Litauer im EM-Kader, der andere Liebling ist der älteste. Saruna Jasikevicius trug 1997 erstmals das litauische Trikot, er ist mittlerweile 35 Jahre alt. Er hat in der NBA für Indiana und Golden State gespielt, als einziger Spieler die Europaliga mit drei verschiedenen Vereinen gewonnen. Als Litauen 2003 letztmals den EM-Titel gewann, wurde er zum MVP des Turniers und zu Europas Basketballer des Jahres gewählt.

Wenn Sarunas Jasikevicius kein Gott ist, so ist er doch zumindest ein Hohepriester. Der Spielmacher ist der wohl theatralischste Basketballer aller Zeiten, er dirigiert und lamentiert, täuscht und trickst. Dabei sieht sein Gesicht immer so aus, als habe er gerade in eine Zitrone gebissen. Jasikevicius ist nicht mehr so schnell wie früher, dafür ist sein Mund ununterbrochen in Bewegung. Ohne Pause redet er auf seine Mitspieler ein, auf die Gegner, auf die Schiedsrichter. Wahrscheinlich hätte er auch noch Anweisungen für die Menschen in den Maskottchen-Kostümen übrig, wenn diese bei dem Höllenlärm unter ihren Schaumstoffköpfen etwas verstehen könnten.

Die Spiele der Litauer in Vilnius wirken wie Gottesdienste, der Höhepunkt der Liturgie ist erreicht, wenn ein gegnerischer Spieler an die Freiwurflinie tritt. Dann wird auf der Anzeigetafel der Lautstärkepegel eingeblendet, gegen Frankreich trieb das Brüllen, Trommeln und Pfeifen die Nadel auf gesundheitsschädliche 107 Dezibel. Dazu wird als Ansporn die Hallen-Bestmarke eingeblendet – „Rekordas: 112“. Vielleicht bringt die kollektive Ekstase den Rekord heute zu Fall.

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