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Gregor Doepke ist Pressesprecher bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).

© promo

Gregor Doepke im Interview: „Jeder Jeck ist anders – das ist gelebte Inklusion“

Pressesprecher Gregor Doepke über das Engagement der DGUV im Behindertensport, einen Inklusionslauf in Köln und andere Herzensprojekte.

Herr Doepke, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) engagiert sich sehr für den Behindertensport in Deutschland. Wie passt das zu den Themenfeldern bei der DGUV?

Die Gesetzliche Unfallversicherung hat drei Hauptaufgaben: Als Teil der Sozialversicherung ist sie zuständig für die Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Falls es doch zu einem Unfall oder einer Erkrankung kommt, kümmert sie sich um die notwendigen Rehabilitationsmaßnahmen und darüber hinaus um eventuelle Entschädigungszahlungen. Unsere Erfahrungen im Bereich Rehabilitation haben gezeigt, dass sportliche Betätigung ein sehr effektives Mittel zur Verbesserung der Bewegungsfähigkeiten sein kann. Dazu kann er dabei helfen, die Betroffenen aus einem mentalen Tief zu holen, wenn die Unfallfolgen einschneidende Veränderungen in ihrem beruflichen und privaten Leben nach sich ziehen. Und weil wir so gute Ergebnisse in der Reha mit Reha-Sport erzielen, fördern wir ganz allgemein den Sport der Menschen mit Behinderung in Deutschland und setzen ihn sehr konkret in unseren eigenen Kliniken und bei der Rehabilitation der Unfallverletzten ein.

Gibt es Beispiele von Versicherten, die es nach einem Unfall bis zu den Paralympics geschafft haben?

Ja, es gibt durchaus einige sehr erfolgreiche Beispiele. Der Rekordmedaillengewinner Gerd Schönfelder, der seine internationale Wintersportkarriere allerdings inzwischen beendet hat, erlitt einen bei der zuständigen Berufsgenossenschaft versicherten Wegeunfall. Auch bei Hans Peter Durst, zweimaliger Goldmedaillengewinner in Rio 2016, der seine Teilnahme an den Paralympics in diesem Jahr zurückgezogen hat, wurde der Sport als Reha-Maßnahme von der Berufsgenossenschaft gezielt gefördert. Aber an der Stelle muss ich deutlich machen, der gesetzlichen Unfallversicherung aus Berufsgenossenschaften und Unfallkassen geht es nicht in erster Linie um den Leistungssport. Uns geht es um die positiven Wirkungen des Sports in der Rehabilitation und auch in der Prävention. Der Spitzensport wirkt da unterstützend indem er Vorbilder schafft, durch die Lebensgeschichten der Athletinnen und Athleten vermittelt, was alles möglich ist und so Menschen motiviert, sich auch im Sport zu versuchen. Das setzen wir systematisch in unserer Reha ein. Auch bei den zwei genannten Athleten war das so. Sie sind nicht direkt als Spitzensportler gestartet, sondern haben erst nach einer intensiveren Beschäftigung mit ihren Sportarten nach und nach bemerkt, wie stark sie tatsächlich in ihren Disziplinen waren.

Sie selbst sind ein begeisterter Läufer und Sport ist ein fester Bestandteil Ihres Lebens. Was können Sie von den paralympischen Teilnehmenden lernen?

Sehr viel. Wenn man einmal bei den Paralympics oder anderen paralympischen Meisterschaften war, dann spürt man sofort, welche emotionale Kraft in diesen Menschen steckt. Die Para-Sportlerinnen und Sportler sind außergewöhnliche Persönlichkeiten, die mit und an den Herausforderungen, die sie meistern, gewachsen sind. Ich will kein Klischee bedienen, aber es ist trotzdem irgendwo wahr: Wenn man mit diesen Menschen spricht, dann merkt man einfach, dass man vieles im eigenen Leben relativieren muss, weil sie mit ganz anderen Schwierigkeiten fertig geworden sind und extrem viel erreicht haben. Man kann sich selbst daran messen und hinterfragen, was eigentlich wichtig ist und was nicht. Ich finde, das bringen diese Menschen einfach par excellence rüber. Diese Athletinnen und Athleten sind für mich auch persönlich Vorbilder – in meinen eigenen bescheidenen sportlichen Aktivitäten genauso wie im Leben ganz allgemein.

Die DGUV ist den Paralympics seit Jahren eng verbunden. Ein außergewöhnliches Projekt in diesem Rahmen ist der Kinofilm „Gold“. Er begleitet drei Paralympics-Teilnehmende auf ihrem Weg zu den Spielen 2012 in London. Wie sehr mussten Sie für seine Umsetzung kämpfen?

Zu der Filmidee gab es viel Zustimmung und gleichzeitig auch viel Skepsis. Es war mir aber ein großes Anliegen, dass es ein Kinofilm wird, mit allen künstlerischen Freiheiten für die Produzenten und den Regisseur – und eben kein PR-Produkt. Ansonsten hätte der Film die ja auch für die gesetzliche Unfallversicherung wichtigen Botschaften nicht klar vermitteln können und er hätte nicht so eine Tiefe und Glaubwürdigkeit bekommen. Solche Ansprüche an die eigene Institution zu vermitteln, kann dann natürlich schwierig werden, und da muss man halt immer wieder den Kopf für hinhalten. Aber gerade von unserem Vorstand, der sich aus ehrenamtlichen Vertreterinnen und Vertretern der Versicherten und der Arbeitgebenden zusammensetzt, kam und kommt immer noch viel Unterstützung. Die Gesamtvorbereitung erforderte viel Geduld und Ausdauer. Bei der Umsetzung gab es dann Momente, in denen ich auch dachte, ich muss das Projekt aufgeben. Aber am Ende kam ich immer an den Punkt, an dem ich mir sagte: Nein, wir sind schon so weit und wir können damit viel erreichen, also weiter geht‘s. Wie im Sport.

In dem Film spielen Henry Wanyoike, ein blinder Läufer aus Kenia, die deutsche Schwimmerin Kirsten Bruhn und der australische Rennrollstuhlfahrer Kurt Fearnley die Hauptrollen. Wie kam es zu dieser Besetzung?

Die Auswahl war nicht einfach, weil wir viele Dinge beachten mussten. Der Film ist kein Spielfilm, sondern ein Dokumentarfilm. Die Protagonisten wurden daher über zwei Jahre hinweg von Produktion und Filmteam begleitet und mussten viele Einblicke in ihr persönliches Leben geben. Das muss man auch zulassen können, besonders wenn die Geschichte von großen Schicksalsschlägen gezeichnet ist. In erster Linie wollten wir sehr authentische und auch starke Persönlichkeiten zeigen. Es sollten jeweils Mann und Frau vertreten sein, und wir wollten es von Anfang an international ausrichten, weil die Botschaft eine universelle ist und dadurch an Kraft gewinnt. Und dazu sollten es auch Athletinnen und Athleten sein, die auch eine Chance auf eine Goldmedaille haben, einfach um mit dem Titel des Films etwas kreativ spielen zu können, auch wenn die Botschaft ja eine andere ist. Denn der Titel „Gold, du kannst mehr als du denkst“, steht nicht für die Goldmedaille, sondern vielmehr für den Appell, an die eigenen Fähigkeiten zu glauben und so Hindernisse überwinden zu können, die man vorher für unüberwindbar hielt. 

Seit 2004 gibt es die Paralympische Zeitung und nicht zu vergessen „R(h)ein Inklusiv“. An wen richten sich diese öffentlichkeitswirksamen Projekte der DGUV?

Sie richten sich an die allgemeine Öffentlichkeit, an Entscheiderinnen und Entscheider in der Gesellschaft, natürlich auch an junge Leute – und zwar inklusiv. Es gibt noch zu wenig Menschen, die wissen, dass sie mit bestimmten Beeinträchtigungen trotzdem Sport machen können. Wir versuchen mit unseren Projekten auch, die gesellschaftliche Akzeptanz des Behindertensports zu steigern und die Wahrnehmbarkeit zu erhöhen. Das wirkt natürlich dann auch zurück auf unsere eigenen Versicherten, die wir motivieren wollen, das Potential des Sports für sich persönlich zu nutzen. Erleben, eigenes Mitmachen, das Erlebte verarbeiten und weitererzählen, das sind elementare Bestandteile unserer Aktionen und Projekte. So entsteht Begeisterung, Motivation und der Impuls, es auch selbst zu tun. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Schauen Sie nur auf die Geschichte von Valeska Knoblauch. Zwei Jahre nach ihrem Unfall probierte sie auf der Messe Rehacare zum ersten Mal Para Badminton aus. Inzwischen spielt sie auf Weltniveau und tritt im Badminton jetzt in Tokio an.

Und wie entstand die Idee zu R(h)ein Inklusiv und was verbirgt sich hinter dem Namen?

Wir haben das erstmalig 2016 gemacht. Die Idee ist entstanden aus der Zusammenarbeit mit der Deutschen Sporthochschule in Köln, an der die DGUV für fünf Jahre eine Stiftungsprofessur für den paralympischen Sport auf den Weg brachte, die übrigens inzwischen vom Land NRW als regulärer Lehrstuhl dauerhaft übernommen worden ist. Professor Abel und ich haben dann irgendwann gesagt, dass wir diese wichtige Initiative auch in die Öffentlichkeit tragen sollten, um Menschen für den inklusiven Sport zu begeistern und das gemeinsame Sporterlebnis erlebbar zu machen. R(h)ein Inklusiv ist ein gemeinsamer Staffellauf von Menschen mit und ohne Behinderung beim Köln Marathon. Beim letzten Lauf hatten wir über 20 Staffeln mit je vier Teilnehmenden am Start. Als gebürtiger und überzeugter Kölner sage ich nur: Jeder Jeck ist anders – das ist gelebte Inklusion. In diesem Jahr übrigens am dritten Oktober, Corona-bedingt aber virtuell.

Auf welche Projektumsetzung im Behindertensport sind Sie heute besonders stolz?

Der Film war auf jeden Fall das außergewöhnlichste. Wenn wir jetzt aber mal auf „R(h)ein Inklusiv“ schauen oder die Paralympics Zeitung – das sind auch absolute Highlights. Die Frage ist ja immer: Was bleibt bei den Leuten hängen? Für mich ist die Umsetzung des Projekts der Paralympics Zeitung und die internationale Reichweite, zusammen mit dem sozialen Kern, der an dem Projekt hängt, das beeindruckteste. „Gold“ und die Paralympics Zeitung sind somit vermutlich die größten und nachhaltigsten Projekte.

Wenn Sie völlig frei entscheiden könnten, wo läge Ihr kommender Fokus?

Wenn wir auf den Behindertensport schauen, dann sollten wir ihm vor allen eine Plattform bieten, um das öffentliche Bewusstsein für die Möglichkeiten des Sports weiter zu schärfen. Dabei sollte der Fokus der Berichterstattung nicht ausschließlich auf den Paralympics liegen. Es geht es um die Aktivierung der Breite, um die Bedeutung des Sports insgesamt – für die Gesundheit, das menschliche Wohlbefinden und für den sozialen Zusammenhalt. Und da sage ich klar: Der Behindertensport ist ein Motor der Inklusion. Vereine, Verbände und Politik tun schon eine Menge, aber durch größere Investitionen ergeben sich selbstverständlich noch viel mehr Handlungsspielräume. Ich würde mir wünschen, dass wir diesen Spirit und die positive Energie aus dem inklusiven Sport noch viel stärker als positiven Impuls in die Gesellschaft einbringen könnten.

Also „Gold 2“?

Nein, bitte kein Gold 2 oder Fortsetzung eines erfolgreichen Films, das geht oft schief. Ich glaube vielmehr, wir sollten versuchen, die Chancen zu nutzen, die sich aus den Paralympics 2024 ergeben, die bei unseren französischen Freunden in Paris stattfinden werden, im Grunde ja vor der eigenen Haustür. Deren Strahlkraft sollten alle Unterstützerinnen und Unterstützer des Sports der Menschen mit Behinderungen nutzen, um Sport und Inklusion den Stellenwert zu verschaffen, den sie verdienen. Um nachhaltige Projekte und Initiativen zu den Paralympics 2024 auf den Weg zu bringen, dürfen wir im Grunde keinen Tag länger warten und müssen trotz aller anderen aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, jetzt aktiv werden.   

Sie scheuen anscheinend die Umsetzung großer Projekte nicht. Was würden Sie jüngeren Menschen raten, um die eigenen Träume zu verwirklichen?

Es soll ja jetzt nicht wie eine Plattitüde klingen, aber es ist schon so: Wenn man von einer Sache begeistert und überzeugt ist, dann muss man bereit sein, dafür zu kämpfen, sich nicht direkt von kleinen Hindernissen bremsen lassen. So wächst man auch daran und gerade unsere Protagonisten aus „Gold“ zeigen exemplarisch, wie man mit vermeintlich unüberwindbaren Hindernissen im Leben umgehen kann. Wenn man selbst an etwas wirklich glaubt, dann kann man auch andere Menschen überzeugen. Im Interesse der guten Sache, das ist mir wichtig, muss man eben auch Widerstände und Rückschläge hinnehmen können, sich neu fokussieren und einen weiteren Anlauf nehmen. So wie unsere Olympiasiegerin im Weitsprung, Malaika Mihambo. Erst mit ihrem letzten Versuch errang sie in Tokio Gold. Innere Kraft und Nervenstärke waren wohl die entscheidenden Faktoren. Auch wenn Sie noch nicht einmal halb so alt ist wie ich, auch sie ist für mich ein Vorbild.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Nils Wattenberg

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