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Sport: Grenzen am Hang

Nach der Verletzung von Maria Riesch wird wieder diskutiert, welche Risiken bei alpinen Skirennen vertretbar sind

Berlin - Gestern, spätabends, ist Maria Riesch zu Hause angekommen, bei ihren Eltern in Garmisch-Partenkirchen. Es hätte schneller gehen können, sie war schon um 13 Uhr in München gelandet, aber sie wurde mit ihrem Kreuzbandriss und ihrer Meniskusverletzung erst noch zu Ernst-Otto Münch, dem Teamarzt des Deutschen Skiverbands (DSV), gefahren. Und der sagte: „Der Meniskus ist so schwer verletzt, er muss sofort operiert werden.“ Bis gegen 19 Uhr hat Maria Riesch nach dem Eingriff geschlafen. Aber sie ist nervlich nicht mehr am Boden. Siegfried Riesch, ihr Vater, hatte noch mit ihr telefoniert, bevor sie aus den USA abflog. „Es geht ihr um 250 Prozent besser als direkt nach dem Unfall“, sagte der Unternehmer gestern. Er hatte mit seiner Frau in einem Hotelzimmer in Südtirol nachts auf Eurosport gesehen, wie sich seine Tochter, die Weltklasse-Skifahrerin Maria Riesch, beim Weltcup-Riesenslalom verletzt hatte. Der zweite Kreuzbandriss in einem Jahr. Maria Riesch hatte nach einem Fahrfehler versucht, sich ins nächste Tor zu retten. Da riss das Band.

So etwas kann passieren, wenn man Pech hat. Aber für Siegfried Riesch hat diese Verletzung System. Sie war quasi unvermeidlich. „Der taillierte Ski hat bei der Korrektur so brutal gegriffen, dass das Band der Belastung nicht mehr standhalten konnte“, sagt Riesch. „Und das darf nicht sein.“

Es spielt keine Rolle, wie brutal nun ganz genau der Ski gegriffen hat. Es geht um etwas Grundsätzliches. „Alle Verantwortlichen müssen sich dringend wegen des Materials zusammensetzen“, sagt Christian Neureuther, der frühere Weltklasse-Slalomläufer. „Es gibt eine Summierung von Verletzungen. Skirennen sollen spektakulär sein, aber nicht mehr so gefährlich.“ Er arbeitet als Experte fürs Fernsehen, er kennt Maria Riesch seit ihrer Kindheit. Neureuther liegt das Thema Material am Herzen.

Skirennen sind Spektakel im Grenzbereich. Mutproben mit extremem Risikofaktor. Abfahrtsläufer erreichen Spitzengeschwindigkeiten von 155 Stundenkilometern, ständige Schläge und extremer Druck belasten den Körper, Sprünge gehen bis zu 70 Meter weit. Durch die Taillierung der Ski wird die Kurvengeschwindigkeit immer größer. Kurven werden, anders als früher, fast nur noch auf den Kanten durchfahren. Und die müssen immer stärker greifen. „Heute wirkt dort auf die Fahrer das Drei- bis Vierfache der Erdbeschleunigung. Diese Kräfte hält der Bewegungsapparat nicht mehr aus“, sagt Hubert Hoerterer, der langjährige Mannschaftsarzt der deutschen Skiläufer.

Der Zuschauer sieht diese Belastungen nicht. Er sieht betonierte Pisten, er sieht klare Schwünge, er sieht selten rudernde Bewegungen. Es sieht dynamisch und ungefährlich aus. Als der Österreicher Franz Klammer 1976 Abfahrts-Olympiasieger wurde, fuhr er so unruhig, als würde er auf einer Buckelpiste rasen. „Aber heute sind die Skirennen viel gefährlicher als 1976“, sagt Neureuther. „Unter der scheinbar ebenen Oberfläche ist es spiegelglatt. Mit einem normalen Ski könnte man dort keinen einzigen Schwung ziehen.“ Seit einigen Jahren finden Abfahrtsrennen nur noch auf Kunstschneepisten statt.

„Beim Material müssen wir zurückfahren“, sagt Hoerterer. „Die Kräfte, die auftreten, sind vom Gehirn nicht mehr zu kontrollieren.“ Durch die Taillierung steigt schon im Riesenslalom und im Super-G die Belastung auf die Bänder extrem.

Und in der Abfahrt wären viele Kurse ohne entschärfte Streckenführungen gar nicht mehr befahrbar. Vor der Kompression in Val d’Isere wurden die Tore umgesteckt. Sonst wäre die Kurvengeschwindigkeit zu hoch. „Die Strecken müssten wieder mehr Schläge und Wellen bekommen“, sagt Klammer. Hört sich seltsam an. Aber, sagt der Österreicher:: „Das würde die Geschwindigkeit bremsen.“ Aus Sicherheitsgründen rasen heute die Läufer auch auf einer langsameren Linie als früher auf die Mausefalle in Kitzbühel zu. Dort beträgt das Gefälle 85 Prozent.

Aber weite Sprünge und extreme Geschwindigkeiten sind Teil eines Spektakels. Skirennen leben von der Show, sie bringt TV-Quoten, Sponsoren, Schlagzeilen. Die Läufer leben davon, das Fernsehen, die Industrie. Deshalb werden Kurse nur so weit entschärft, dass sie gerade noch befahrbar sind. Und manchmal wird sogar noch zugelegt. Auf der Abfahrtsstrecke von Garmisch-Partenkirchen ist seit 2003 wieder der Seilbahn-Sprung Teil des Kurses. Früher war das ein natürliches Hindernis, die Läufer sprangen zehn Meter. Jahrelang wurde dann dort nicht mehr gefahren. Bis die Veranstalter eine Kante am Schanzentisch einbauen ließen. Jetzt gehen die Sprünge 40 Meter weit. „Wegen des Fernsehens“, sagt Stefan Stankalla, lange einer der besten deutschen Abfahrer. Im Frühjahr ist er zurückgetreten. „Man kann Abfahrtsläufer als Gladiatoren bezeichnen“, sagt Max Rauffer, ebenfalls lange deutscher Spitzen-Abfahrer. Vor ein paar Wochen trat er zurück. „Brot und Spiele“, sagt der Arzt Hoerterer zynisch.

Schwere Verletzungen schrecken nicht ab. „Es gibt genügend Läuferinnen, die nach mehreren Kreuzbandrissen wieder vorne mitfahren“, sagt Neureuther. Die Österreicherin Elisabeth Görgl zum Beispiel. 2001 blieb sie beim Abfahrtstraining der Junioren-WM in Verbier mit einem Kreuzbandriss liegen. Es war ihr dritter. Görgl war gerade 20 Jahre alt. Aber Aufhören? Kein Thema. Den WM-Titel in der Kombination holte sich im Übrigen in Verbier eine Deutsche: Maria Riesch.

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