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Im Dickicht der Gliedmaßen. Die Feinheiten eines Ringkampfs können oft nur für Fachleute durchschauen.

© afp

Gunter Gebauer über das Olympia-Aus: „Ringen ist eine veraltete Sportart“

Der Sportphilosoph Gunter Gebauer versteht, warum das IOC Ringen vorerst aus dem olympischen Programm gestrichen hat und hält die Kritik daran für "ein bisschen doppelzüngig". Er wünscht sich als Ersatz: Klettern.

Herr Gebauer, wird den Olympischen Spielen ohne Ringen etwas fehlen?

Es hinterlässt eine Leerstelle. Man konnte Ringen immer als Bindeglied zu den antiken Olympischen Spielen betrachten. Das ist eine Leitidee der modernen Olympischen Spiele, dass sie in der Nachfolge der antiken Spiele stehen. Es gab in der Antike Leichtathletik, aber eben auch Kampfspiele wie Ringen. Dieser Platz ist jetzt leer.

Ist der drohende Ausschluss von Ringen durch das Internationale Olympische Komitee ab 2020 ein schmerzlicher Verlust?

Also die Traditionsbrücke, die Ringen in die Antike schlagen soll, wird meines Erachtens überfrachtet.

Sie sehen es also nicht so, dass das IOC die eigenen Wurzeln verraten hat?

Nein, da muss ich das IOC mal ein bisschen in Schutz nehmen, was ich selten tue. Der moderne Sport hat doch jedes Recht, sich seine Kernsportarten neu auszusuchen. Wir müssen keinen Kotau machen vor einer idealisierten Antike. Schon in der Antike hatten die Ringer zeitweilig einen sehr schlechten Ruf, insbesondere wegen ihrer Blumenkohlohren.

Was können Sie der aktuellen Umgestaltung des olympischen Programms abgewinnen?

Es spricht doch für die Gesundheit der Olympischen Spiele, dass man auf die Jüngeren zugeht, ihnen die Hand reicht und sagt: Eure Sportarten sollen hier auch repräsentiert werden. Ein Ausschluss von Ringen wäre trotzdem schmerzlich, vor allem für Nationen, in denen Ringen Volkssport ist. Im Konzert der Nationen der Welt haben die ohnehin keine großen Stimme, etwa einige ehemalige sowjetische Teilrepubliken. Die müssen natürlich eine nationale Identität gewinnen, und das funktioniert ja, wie wir wissen, sehr stark über Sport. Man schneidet ihnen nun eine wichtige Möglichkeit ab, sich international zu repräsentieren.

Kann Ringen etwas, das nur Ringen kann?

 Gunter Gebauer, 69, ist Professor für Philosophie an der FU Berlin. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich intensiv mit der Philosophie und Soziologie des Sports beschäftigt.
Gunter Gebauer, 69, ist Professor für Philosophie an der FU Berlin. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich intensiv mit der Philosophie und Soziologie des Sports beschäftigt.

© picture alliance / dpa

Abgesehen von der Repräsentation dieser Länder: Kann Ringen etwas, das nur Ringen kann?

Ja, Ringen hat eine intuitive Verständlichkeit, weil es überall präsent ist. Schon bei Kindern, die miteinander streiten, ihre Kräfte messen. Da wird gehalten, da nehmen sie sich in den Schwitzkasten, werfen den anderen zu Boden und sich gleich mit drauf. Es ein ziemlich elementares Spiel, die Amerikaner nennen das Rough-and-Tumble-Play. Und Ringen hat eine künstliche Kulturform, die diese tief verankerten Bewegungs- und Verhaltenweisen aufnimmt. Es macht Ringen recht wertvoll, dass man etwas wiedererkennen kann, was wir irgendwann einmal gehabt haben. Man hat das auch in ganz vielen Redewendungen, man ringt mit einem anderen mit Argumenten, man ringt um Worte, man ringt die Hände in der Verzweiflung.

Lohnt es sich denn, für Ringen als olympische Sportart zu streiten?

Das kommt darauf an, wer streitet. Für die Länder, in denen Ringen Volkssport ist, lohnt es sich auf jeden Fall. Bei den Protesten in Deutschland hat man nicht so sehr beachtet, wer sonst hätte rausfallen sollen. Bei anderen Streichkandidaten wie Moderner Fünfkampf, Kanu und Hockey gewinnen deutsche Athleten traditionell viele Medaillen. Ohne die Goldmedaillen im Kanu würde die deutsche Medaillenbilanz sehr armselig aussehen. Es kommt noch hinzu: Hockey und Moderner Fünfkampf sind Sportarten, die zur mittleren bis oberen Mittelschicht gehören. Da kann man sich vorstellen, dass diese drei Sportarten in einem IOC-Exekutivkomitee, das weitgehend den Interessen der westeuropäischen Sportnationen folgt, gehalten werden sollten. Ringen ist in Westeuropa eher eine Sportart, die für untere soziale Schichten interessant ist.

Halten Sie die Empörung über diese Entscheidung des IOC für reflexhaft?

Ja. Sie müssen sich nur vorstellen, eine der anderen Sportarten wäre rausgefallen. Was wäre dann passiert? Beim Fünfkampf wurde gesagt: Den hat Coubertin persönlich erfunden. Das IOC ist ein Geschäftsunternehmen. Das wirft man ihm einerseits vor, aber andererseits freut man sich, wenn das Geschäft blüht wie bei den Spielen in London. Wenn es nicht gut organisiert ist, sind alle sauer. Insofern finde ich das gerade ein bisschen doppelzüngig zu behaupten, dass das IOC nur eine Gelddruckmaschine sei. Was dabei herauskommt, findet weltweites Interesse. Das kann man nicht einfach wegwischen und sagen: Wir wollen lieber ein paar traditionelle Sportarten sehen.

Nehmen Sie es dem IOC ab, dass es sich öffnen will für junge Sportarten?

Das nehme ich ihm schon insofern ab, als das IOC wie jedes Unternehmen schauen muss, dass es in seinem Sortiment die neuesten Artikel hat. Natürlich besteht auch die Gefahr einer vordergründigen Sortimentsauffrischung: dass sich das IOC auch aus Opportunismus auf diese oder jene neue Sportart einlässt. Es gibt aber auch gelungene Entscheidungen.

An welche denken Sie?

Eine Zeit lang hat man gedacht: Beachvolleyball ist ein Verrat am Volleyball. War es vielleicht am Anfang, weil die knappen Trikots Pflicht wurden und es auch eine Fleischbeschau war. Auf der anderen Seite kommt es unglaublich gut an, Beachvolleyball hat sich hervorragend positioniert, dieser Sport ist mit der Zeit viel, viel besser geworden und diese Formel zwei gegen zwei mit einem Netz dazwischen, relativ einfachen Regeln und hoher Transparenz im Fernsehen ist total gelungen.

Hatte Ringen überhaupt eine Chance, sich weiterzuentwickeln?

Der Moderne Fünfkampf hat einiges an seinen Regeln verändert, um weiter olympisch zu sein. Hatte Ringen überhaupt eine Chance, sich weiterzuentwickeln?

Da kommen zwei Faktoren zusammen: Ein Ringerverband, der wenig beweglich ist. Die Fünfkämpfer schauen eben darauf, dass ihre Sportart für die Zuschauer attraktiv bleibt. Das kann man vom Ringen nicht sagen. Ringen ist aber auch sehr schwer zu modernisieren.

Konnte Ringen nur stehen bleiben?

Ich befürchte, dass Ringen von der Bewegung und von der Idee her eine veraltete Sportart ist. Sportarten können auch eben veralten, sie sind nicht mehr kompatibel mit der Zeit, in der sie betrieben werden. Sie favorisieren Bewegungen, die einfach nicht mehr attraktiv sind. Dieses Aneinanderdrücken der Körper, diese Verknotung von Fleischmassen ist eigentlich nichts mehr, was heute den Kampfformen entspricht. Heute sind Kämpfe entweder durch Instrumente wie Pistolen und Klingen oder Boxhandschuhe so, dass man den Gegner auf Distanz halten kann.

Also wird Ringen auch zum Verhängnis, dass sich die Gesellschaft angewöhnt hat, zum Gegenüber einen Mindestabstand zu wahren?

Das kann man so sagen. Gesellschaftliche Einflüsse spielen immer eine Rolle für die Konjunktur einer Sportart. Sehen Sie zum Beispiel den Tennisboom. Der kam in einer Zeit, als es in Deutschland einen Bildungsaufstieg gab. Und es gab eine veränderte Haltung zum eigenen Körper und zu dem des anderen: Eine Zunahme an Körperpflege, mehr Aufmerksamkeit auf Ästhetik und Gesundheit und eine offene körperliche Zuwendung bei Freundschaft und ansonsten eine Distanzierung von den Körpern der anderen. Also einerseits mehr ,vornehmer’ Abstand bei gesellschaftlichen Gelegenheiten. Immer mehr Leute haben sich damals geweigert, die Hand zu geben, weil es unschick war. Aber auf der anderen Seite nahmen Sympathiebeweise in Form von Küsschengeben zu. Das war ein völlig neuer Trend. Da passte Tennis perfekt rein: die Gegner weit entfernt voneinander, durch ein Netz getrennt. Ringen hat aber nicht nur ein Akzeptanzproblem, sondern auch ein Transparenzproblem.

Was meinen Sie damit?

Es bildet sich im Ringkampf ein unentwirrbares Knäuel der Körper, und die Kampfsituation ist oft nur von Fachleuten zu durchschauen. Aber wer ist Fachmann im Ringen?

Wie wichtig ist das Fernsehen als Kriterium?

 Gunter Gebauer, 69, ist Professor für Philosophie an der FU Berlin. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich intensiv mit der Philosophie und Soziologie des Sports beschäftigt.
Gunter Gebauer, 69, ist Professor für Philosophie an der FU Berlin. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich intensiv mit der Philosophie und Soziologie des Sports beschäftigt.

© picture alliance / dpa

Wie wichtig ist denn das Fernsehen als Kriterium?

Bewegungen müssen heute fernsehkompatibel sein. Der Zuschauer soll jederzeit sehen können, wie der Stand ist. Und Bewegungen sollen filmnah sein, spektakulär, virtuos. Über Trickskifahren werden Filme gemacht, aber ich habe noch nicht gesehen, dass Kinos mit Ringerfilmen gefüllt worden sind. Mit Boxerfilmen schon.

Haben Sie einen Wunsch, welche Sportart für Ringen ins Programm aufgenommen werden sollte?

Es gibt ja einige Kandidaten. Ganz schlimm fände ich, wenn diese chinesische Kampfsportart ins Programm aufgenommen werden sollte, Wushu. Das wäre eine Verbeugung vor China, außerdem gibt es mit Taekwondo schon eine asiatische Kampfsportart. Motorbootrennen geht gar nicht, Maschinen bei Olympia wären ein Kulturbruch. Squash ist auf der Liste, aber da hätten sie sonst Badminton streichen müssen, die sind sich zu ähnlich. Baseball ist für das IOC attraktiv, weil es eine beliebte Sportart in Nordamerika und Japan ist, doch bildet es eine Welt für sich, die aufs Engste mit der amerikanischen Selbstwahrnehmung verbunden ist. Aber eine Sportart wäre interessant.

Welche?

Klettern. Das hat sich stark verbreitet. Es hat auch etwas sehr Individuelles. Das eigene Selbst als Ressource. Das ist für den Sport heute unglaublich wichtig, für Manager, aber auch für Jugendliche bei der Identitätssuche. Auch die wilden Migrantenjungen aus den Banlieues in Paris werden zu Kletterkursen mitgenommen und kommen verändert zurück. Da ist nichts mehr mit großer Klappe.

Der Berg ist immer stärker.

Auf jeden Fall. Am Klettern wäre auch interessant, dass es heute in der Halle stattfinden kann. Es ist ja typisch für den Sport, dass er Natur nachbaut. Die 400-Meter-Bahn ist eine idealisierte Laufpiste durch die Natur. Außerdem ist beim Klettern das Risikomoment dabei. Das ist bei den olympischen Sportarten sonst kaum vertreten, ist aber ein wichtiges Motiv bei den neuen Sportarten, die gerade Jugendliche interessieren. Sport als Parcours, in dem ich bei einer Risikoabwägung Hindernisse überwinde. Gegen olympisches Klettern wäre wirklich nichts einzuwenden.

Gunter Gebauer, 69, ist Professor für Philosophie an der FU Berlin. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich intensiv mit der Philosophie und Soziologie des Sports beschäftigt.

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