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Sport: Halleluja für Andre Agassi

PARIS . Mitten auf dem Court Central von Paris wurde ein Stück gegeben, wie es gewöhnlich in Hollywood verfilmt wird.

PARIS . Mitten auf dem Court Central von Paris wurde ein Stück gegeben, wie es gewöhnlich in Hollywood verfilmt wird. Ein aus privaten Ruinen wiederauferstandener Star, ein Triumph mit Tränen, ein großes Comeback in einem dramatischen Finale, ein aufgeregter Schwarm von Film- und Musikgrößen wie Sting, Bruce Springsteen und Johnny Hallyday in der VIP-Loge. Und ein Mann, der am Ende seiner Mission das große Wort am Sonntag sprach, den Blick zum Himmel über Paris gewandt: "Ich war gesegnet da draußen. Gott war mit mir".

Halleluja für Andre Agassi.

24 Stunden nach dem Showdown zwischen Steffi Graf und Martina Hingis beschloß die bewegende Finalinszenierung des French-Open-Siegers Andre Agassi ein Pariser Tennis-Wochenende, das so schnell keiner vergessen wird. Erst der Kraftakt der großen, alten Dame Steffi Graf, und nun auch noch Agassis Coup aus den Tiefen einer Depression, die vor anderthalb Jahren mit dem Sturz auf Weltranglisten-Platz 142 fein säuberlich dokumentiert war: "Das sind die schönsten Momente meines Lebens", sagte Agassi, "bis zu meinem Tod werde ich jeden Tag an diesen Sieg denken".

Ausgerechnet der launische Amerikaner schrieb mit dem 1:6, 2:6, 6:4, 6:3, 6:4-Sieg über Andrej Medwedew (Ukraine) ein Stück Tennisgeschichte. Als erster Spieler in den modernen Zeiten dieses Sports komplettierte Agassi das "magische Quartett" der vier großen Tennistitel in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York. Mit seinen über die Jahre verteilten Erfolgen bei den All England Championships 1992, bei den US Open 1994, bei den Australian Open 1995 und bei den French Open 1999 schaffte Agassi, was selbst einem Björn Borg, einem Jimmy Connors, einem Ivan Lendl, einem John McEnroe, einem Boris Becker und dem großen Rivalen Pete Sampras verwehrt geblieben war. "Ich habe mir meinen größten Traum im Tennis erfüllt", sagte Agassi, "jetzt kann ich auch meinen Frieden mit meiner Karriere machen".

Im Gegensatz zu den vier bisherigen Grand-Slam-Champions (Donald Budge, Roy Emerson, Rod Laver und Fred Perry), die alle bedeutenden Titel in ihrem Rekordbuch aufgelistet haben, arbeitete sich Agassi sogar auf vier verschiedenen Belägen zum neuen Tennis-Ruhm vor: auf dem sogenannten Rebound-Ace-Boden in Melbourne, auf Sand in Paris, auf Rasen in Wimbledon und auf dem Betonpflaster von New York.

Daß Agassi ein Mann sprichwörtlich für alle Gelegenheiten sein könnte, stand schon früh in seinem Berufsleben fest. Daß er aber noch jemals alle Grand-Slam-Turniere gewinnen würde, war keineswegs klar. Der Spieler mit der besten Augen-Hand-Koordination sowie einer unvergleichlichen Explosivität und Dynamik konnte nie wie manch minderbegabter Kollege konstant ans Werk gehen: "Tennis", sagt Agassi, "war nie mein ganzes Himmelsreich. Diese ewigen Aufs und Abs sind Teil des Menschen Andre Agassi." Auch die Rivalität mit seinem Weggefährten Pete Sampras platzte nach einem spannungsgeladenen Jahr 1995 "wie eine schillernd bunte Seifenblase" (The Los Angeles Times). Agassi verschwand wieder aus der Spitze - und nach dem Olympiasieg 1996 sogar im Niemandsland.

Kein einziger Turniersieg im Jahr 1997, und die große Lustlosigkeit, überhaupt noch einmal zurückzukehren in den Wanderzirkus: "Damals", sagt Agassi, "war ich von meinem Beruf so weit entfernt wie die Erde vom Mond". Erst das Drängen seiner ehemaligen Frau Brooke Shields, seines Trainers Brad Gilbert und seines besten Freundes Gil Reyes verscheuchten den Grauschleier aus Lethargie und Phlegma. Gilbert und Reyes, beide am Sonntag auf dem Pariser Court Central dabei, dankte Agassi öffentlich für "die unglaubliche Unterstützung. Ihr wißt gar nicht, wie sehr ich euch Dank schulde".

Während die Weltspitze im Herbst 1997 um die Plätze für das ATP-Finale rangelte, begann Agassi mit einer Tingeltour übers flache Land und holte sich erste bescheidene Punkte bei minderwertigen Challenger-Turnieren. "Gegen einen Pete Sampras kann ich mir mein Selbstbewußtsein nicht zurückholen", sagte Agassi den Spöttern, die seine Provinz-Partien belächelten. Mit einem Sieg über eben jenen Sampras Anfang März 1998 in Scottsdale war Agassi dann urplötzlich wieder da - noch nicht mit altem Format, aber schon in der Statur eines gefährlichen Außenseiters.

Trotz der fünf Turniersiege im Jahr 1998 ähnelte der Weg Agassis nach oben dem parallelen Streben seiner im French-Open-Sieg vereinten Kollegin Steffi Graf. Bei den größten Herausforderungen fehlte Agassi im alles entscheidenden Augenblick immer die mentale Festigkeit. Erst in Paris war der 29jährige Agassi wie die gleichaltrige Graf bereit zum "Grand Slam", auf deutsch: zum großen Wurf. "Diesen Erfolg kann ich wirklich genießen", sagt Agassi, "weil ich weiß, wieviel Willensstärke und Zähigkeit dahinterstecken". Schluß machen will Agassi, wie Steffi Graf, auch noch nicht. Seit 25 Jahren hat niemand mehr Paris und Wimbledon hintereinander gewonnen. Agassi will das scheinbar Unmögliche möglich machen.

JÖRG ALLMEROTH

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