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Außergewöhnlicher Linkshänder. Wolfgang Böhme (rechts) gewann mit der DDR bei der WM 1974 Silber. Den größten Triumph seiner Mannschaft, den Olympiasieg 1980, verpasste er gesperrt, weil er den Machthabern nicht sozialistisch genug war.

© IMAGO

Handball-Legende wird Trainer in Rudow: Wolfgang Böhme: Der DDR war er nicht sozialistisch genug

Der legendäre Handballer Wolfgang Böhme hat eine bewegende Geschichte hinter sich. Künftig trainiert er einen Berliner Fünftligisten.

Bernd Konrad hält die Sache zunächst für einen Scherz. „Allerdings für einen guten, ich habe am Telefon laut gelacht, als mir ein Freund den Vorschlag unterbreitet hat“, erzählt der Handball-Abteilungsleiter des TSV Rudow. Im Frühjahr dieses Jahres ist Konrad auf der Suche nach einem geeigneten Trainer für die erste Männer-Mannschaft des Vereins aus dem Berliner Süden. Konrad tut also das, was Menschen in seiner Funktion so tun in der Saisonvorbereitung: Er greift auf sein über Jahre aufgebautes Netzwerk zurück, telefoniert herum, holt sich hier und dort Meinungen ein, kontaktiert Freunde und Bekannte. „Da erzählt mir plötzlich einer, dass Wolfgang Böhme nach Berlin zieht“, sagt Konrad. Womöglich hat der einstige Ausnahmehandballer ja Interesse an einem Trainerposten in Rudow, denkt sich der Abteilungsleiter. Fragen kostet ja nichts.

Ein paar Wochen später ist klar: Konrad hat für seinen Fünftligisten den Trainer mit dem größtmöglichen Namen verpflichtet. Wenn Mitte September die neue Saison startet, wird in Wolfgang Böhme einer der besten Handballer des 20. Jahrhunderts an der Seitenlinie stehen – und ein Mensch, dessen Lebensgeschichte nicht weniger außergewöhnlich ist als seine sportliche Karriere.

„Für mich ist das ein absoluter Neustart, eigentlich wollte ich gar nichts mehr mit Handball zu tun haben“, sagt Böhme, der vor seiner Rückkehr nach Deutschland zwölf Jahre in der Schweiz gelebt, als Lehrer gearbeitet und nun kürzlich eine Wohnung in Charlottenburg bezogen hat. „Auf Dauer war es mir aber einfach zu wenig, immer nur fürs Abwaschen, Staubsaugen und Saubermachen von meiner Frau gelobt zu werden“, sagt der 67-Jährige. „Ich brauche auch hin und wieder andere Anerkennung.“ In der Sporthalle etwa. Von jungen Männern.

Dass es Wolfgang Böhme auf die alten Tage noch einmal nach Berlin verschlagen hat, in die Stadt also, die wie keine zweite symbolisch für die Teilung Deutschlands, Europas und der Welt stand, passt zur bewegten Karriere des gebürtigen Wolfeners (Sachsen-Anhalt). Denn auch Böhmes Biografie ist repräsentativ für das Schicksal vieler DDR-Sportler, die mit dem Arbeiter- und Bauernstaat, seinen Maximen und Vorschriften nicht viel anfangen konnten. Die in erfolgreichen Zeiten beispiellos hochgejubelt, gefeiert, verehrt und später von heute auf morgen fallen gelassen wurden.

Der Regisseur Heinz Brinkmann, wie Böhme in Heringsdorf auf Usedom aufgewachsen und sozialisiert, fand die Geschichte sogar so spannend, dass er sie in einem großartigen, 90-minütigen Dokumentarfilm namens „Fallwurf Böhme“ verewigte. „Es ist eine verzwickte Biografie, die zeigt, wie das DDR-System funktioniert hat“, sagte Brinkmann bei der Kino-Premiere vor zwei Jahren in Berlin. „Diese Schwankung zwischen Aufbegehren und Opportunismus, die bei Wolfgang sehr ausgeprägt ist, ist exemplarisch und hat mich fasziniert.“

Den Olympiasieg verpasst Böhme

Böhme kommt als junger Kerl früh mit den Verlockungen des kapitalistischen Klassenfeindes in Berührung. Als Azubi bei der Handelsmarine hat er mit 18 Jahren mehr Länder gesehen als die meisten DDR-Bürger in ihrem ganzen Leben. Mitten auf hoher See erreicht ihn allerdings ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann: Empor Rostock, eine der besten Adressen des DDR-Handballs, hat Interesse an dem talentierten Linkshänder. Böhme zieht also nach Rostock und macht sich dort schnell einen Namen als außergewöhnlicher Handballer. Es dauert nicht lange und er wird in die Nationalmannschaft berufen, für die er in den folgenden zehn Jahren 192 Spiele absolviert. Vier Jahre davon darf er die DDR-Nationalmannschaft sogar als Kapitän aufs Feld führen.

Ihren größten Triumph, den Olympiasieg 1980, verpasst er allerdings – und das hat weder sportliche noch gesundheitliche Gründe: Böhme ist topfit und mit 30 Jahren auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Schaffenskraft. Den Staatsorganen, die Menschen aller Bevölkerungsschichten überwachen und ein besonderes Auge auf Sportidole wie Böhme geworfen haben, ist er aber nicht sozialistisch genug. Ein Eintrag in seiner Stasi-Akte etwa vermerkt „ausgeprägtes Interesse“ an Beatmusik, Feiern und Liebschaften. Böhmes Lebensstil passt nicht ins sozialistische Weltbild des Vorzeigesportlers, der laut offizieller Doktrin „Diplomat im Trainingsanzug“ sein soll. „Ich war eher ein Lebemann“, sagt Böhme. Stammkunde in der Bar des Neptun-Hotels in Warnemünde, ebenso bekannt in den anderen Lokalen Rostocks. Heute würde man vielleicht sagen: ein Feierbiest.

Wenige Wochen vor dem Beginn der Olympischen Spiele in Moskau, den ersten großen Boykott-Spielen, verfügt die DDR schließlich seine „Sperrung aus dem Reisekader“ und erklärt ihn zur „Unperson“, wie das damals hieß. Was konkret dazu geführt hatte, lässt sich heute schwer rekonstruieren, weil das Jahr 1980 in Böhmes 500 Seiten dicker Stasi-Akte zu großen Teilen geschwärzt ist.

„So eine Überwachung hätte ich niemals für möglich gehalten“

Womöglich ist doch herausgekommen, dass sich Böhme 1978 bei der WM in Dänemark des Nächtens heimlich ins Zimmer der BRD-Mannschaft geschlichen hatte, um Bier mit den Nationalspielern Heiner Brand und Kurt Klühspies zu trinken. Wenig später drohte Böhme in einem Brief an eine Geliebte damit, beim nächsten Auslandswettkampf nicht in die DDR zurückzukehren – dummerweise liest die Staatssicherheit zu diesem Zeitpunkt längst mit. Zeitweise hat das Ministerium im Sinne der Überwachung zwölf inoffizielle Mitarbeiter auf ihn angesetzt.

„So eine Überwachung hätte ich niemals für möglich gehalten“, erzählt Böhme Jahre später, „ich war viel zu gutgläubig“. Nach dem abrupten Ende der Sportlerkarriere flieht sich der Ausnahmehandballer in den Alkohol, nicht nur am 30. Juli 1980, dem Tag des Olympia-Endspiels, das der langjährige Kapitän und Kopf der Mannschaft in einer Kneipe in Rostock Lütten-Klein verfolgt.

Neun Jahre dauert es schließlich, bis die DDR seinem Ausreiseantrag zustimmt: Böhme zieht in die Schweiz, arbeitet als Lehrer und Handball-Nachwuchstrainer – und kehrt mit Ende 60 doch wieder nach Deutschland zurück, ins einst geteilte Berlin.

Mitte September, wenn die Verbandsliga-Saison startet, wird Wolfgang Böhme erstmals in einem Pflichtspiel für den TSV Rudow an der Seitenlinie stehen.

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