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Oliver Roggisch, 35, beendet zum Saisonende seine Laufbahn. Der 2,02 Meter große Abwehrchef bestritt mehr als 200 Länderspiele, war Kapitän der Nationalmannschaft und wurde 2007 Weltmeister. Mit Essen und Magdeburg gewann er den Europapokal.

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Handball-Weltmeister im Interview: Oliver Roggisch: „Wir sind eine aussterbende Spezies“

Handball-Weltmeister Oliver Roggisch spricht über seinen Ruf als härtester Verteidiger der Bundesliga, schmerzende Zweikämpfe und sein baldiges Karriereende. In seinem neuen Job sieht er sich als "Mädchen für alles".

Herr Roggisch, Sie haben vor kurzem Ihren Rücktritt zum Saisonende bekannt gegeben, auch in der Nationalmannschaft ist dann Schluss. Wollen Sie aufhören oder müssen Sie, weil der Körper es Ihnen sagt?

Ich hätte schon noch Lust, aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man ehrlich zu sich selbst sein muss. Ich habe gemerkt, dass mein Körper nicht mehr mitspielt. Voriges Jahr war ich noch Stammspieler, dieses Jahr habe ich nach erneuten Verletzungen am Ellbogen und am Knie fast gar nicht gespielt. Den Trainingsrückstand kann ich eigentlich kaum noch aufholen. Deshalb bin ich konsequent und ziehe einen Schlussstrich.

Die Angreifer der gegnerischen Teams dürften die Nachricht mit Erleichterung aufgenommen haben …

Ach, das glaube ich gar nicht mal. Es gibt noch genügend andere Abwehrspieler, die mit gesunder Härte zur Sache gehen. In den letzten Jahren war es ja auch so, dass ich nicht mehr ganz so hart gespielt habe wie noch in jüngeren Jahren. Ich glaube jedenfalls nicht, dass mir irgendjemand wegen meiner Spielweise böse Sachen nachsagen wird.

Sie waren über Jahre einer der am meisten gefürchteten Verteidiger in der Bundesliga und gelten als härtester Abwehrspieler, auch in der Nationalmannschaft haben Sie fast ausschließlich in der Defensive gespielt. Nervt das nicht irgendwann?

Bis zum Alter von 22, 23 Jahren habe ich auch ganz normal im Angriff gespielt. Dann bin ich von Göppingen nach Essen gewechselt, und dort gab es in Dimitri Torgowanow einen erstklassigen Kreisläufer als Konkurrenten. Für mich war klar, dass ich in der Offensive nicht viele Spielanteile bekommen würde, deshalb habe ich mich mehr und mehr auf die Defensive konzentriert. Für meine persönliche Entwicklung war das damals der richtige Schritt. Als Rückraum- oder Kreisspieler hätte mein Talent niemals ausgereicht für das Niveau, auf dem ich schließlich gespielt habe. Ich musste mich also zwangsläufig spezialisieren.

In „Projekt Gold“, dem Dokumentationsfilm über die Handball-Weltmeisterschaft 2007 in Deutschland, sagt Torhüter Henning Fritz: „Wir müssen alle so reinholzen wie Olli. Dann wissen die Schiedsrichter gar nicht, wen sie zuerst runterstellen sollen.“

Ich bin so oft darauf angesprochen und reduziert worden. Ganz ehrlich: Wenn wir damals als Mannschaft nicht so giftig und aggressiv gespielt hätten, wären wir nicht Weltmeister geworden. Als Abwehrchef fällt das natürlich in erster Linie auf mich zurück, aber ich kann damit ganz gut leben. Ich war Teil einer Weltmeistermannschaft, und davon hat es ja in Deutschland bisher erst zwei gegeben.

Defensive ist im Handball überwiegend Willenssache, vergleichbar mit Reboundarbeit im Basketball. Was sagt das über Ihre Spielweise und Ihren Charakter aus?

Wille ist elementar. Man muss sich opfern und Zweikämpfe suchen, von denen man schon vorher weiß, dass sie Schmerzen verursachen werden. Gute Einstellung allein reicht allerdings nicht. Das Spiel ist ja in den letzten Jahren immer schneller geworden, deshalb gehört gute Beinarbeit ebenso dazu wie taktisches Spielverständnis. Wir Abwehrspieler bewegen uns auf einem ganz schmalen Grat, wir müssen in jedem Spiel x-mal antizipieren und spekulieren – und wenn man einen Moment zu spät kommt, sieht das schnell mal böse aus, vor allem in der Zeitlupe. Glauben Sie mir: Ich hätte ebenso gern auf manche Zweikämpfe verzichtet wie meine Gegenspieler.

In einem Porträt der Süddeutschen Zeitung über Frankreichs langjährigen Abwehrchef Didier Dinart, einen Spielzerstörer ähnlichen Formats, stand: „Genau genommen spielt er gar keinen Handball.“ Würden Sie das auch von sich behaupten?

Klingt und liest sich vielleicht im ersten Moment ganz witzig, ist aber andererseits eine ziemlich dreiste Behauptung. Wir trainieren ja alles, also Torwurf, Gegenstoß und so weiter. Außerdem entscheidet das Zusammenspiel von Abwehr und Torhüter die meisten Spiele. Ich sehe mich schon als vollständigen Handballspieler. Aber wir Defensivspezialisten sind eine aussterbende Spezies, weil die schnelle Mitte, der schnelle Wiederanwurf nach einem Tor, so wichtig geworden ist, dass man perspektivisch nicht immer zwischen Angriff und Abwehr wechseln können wird.

Sind Sie auch deshalb zum Abwehrchef geworden, weil so mancher Teamkollege diese Art von vermeintlich niederer Arbeit nicht machen will?

In erster Linie hängt die Positionsverteilung mit individuellem Talent zusammen: Es gibt auch Spieler, die hinten einfach für nichts zu gebrauchen sind. Sonst hätte ich heute wahrscheinlich einen anderen Beruf. Deshalb werde ich keinem Spieler einen Vorwurf machen, der nicht in der Abwehr spielen möchte.

Was bedeutet handballerische Schönheit für Sie?

Eine Kombination aus guter Abwehrarbeit mit einem guten Keeper und als Resultat dessen schnelles Umschalt- und Offensivspiel. Fans freuen sich über viele Tore, die wir zu vermeiden wissen. Aber Leute, die sich ernsthaft mit unserem Sport beschäftigen, wissen genau zu schätzen, wie wichtig gute Defensive ist.

Nach der Bundesliga-Saison stehen Ihre beiden letzten Länderspiele auf dem Plan, in der WM-Qualifikation heißt der Gegner der deutschen Mannschaft Polen. Welche Bedeutung haben diese Spiele für Sie?

Ich will gar nicht so sehr über die persönliche Bedeutung sprechen. Für den deutschen Handball ist die Qualifikation elementar. Nach Olympia und der Europameisterschaft sollten wir nicht auch noch das dritte große Turnier verpassen. Polen ist ein starker Gegner, da wird viel von der Tagesform und ein bisschen auch vom Glück abhängen.

Vor kurzem gab es die Nachricht, dass Torhüter Johannes Bitter ins Team zurückkehren wird. Damit ist auch die Debatte verbunden, dass die besten Spieler nicht automatisch für ihr Land spielen wollten. Kann Bitters Rückkehr ein Zeichen sein?

Das hoffe ich. Es muss für jeden eine Ehre sein, im Nationalteam zu spielen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe Verständnis für alle Spieler mit Familie, denen es irgendwann zu viel wird. Andererseits erwarte ich einfach einen gewissen Nationalstolz. Jeder Nationalspieler muss um seine Verantwortung wissen. Deshalb wünsche ich mir für die Zukunft, dass alle Spieler auf die Zähne beißen, auch wenn sie mal ein Wehwehchen haben. Von einer guten Nationalmannschaft profitiert auch die Bundesliga und damit der einzelne Vereinsspieler. Das muss jedem klar sein.

Nach der Karriere werden Sie sowohl bei den Rhein-Neckar Löwen als auch im Nationalteam einen neuen Posten bekleiden. Welche Aufgaben kommen da auf Sie zu?

Die Position haben wir als Teammanager definiert. Ich beobachte bei den Löwen alles, was um die Mannschaft herum passiert, werde beim Abendtraining dabei sein, das Abwehrtraining übernehmen und als eine Art Co-Trainer auf der Bank sitzen. Im Nationalteam bin ich reiner Teammanager, also an 30 Tagen im Jahr bei den Lehrgängen dabei, als Hilfe für Bundestrainer Martin Heuberger. Ich versuche im Umfeld mitzuhelfen, meine Meinung kundzutun. Man könnte auch sagen: Der Roggisch ist Mädchen für alles.

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