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© dpa

Hannover nach Enkes Tod: Eine Stadt im Trauma

Schüler und Sportler in Hannover versuchen, den Selbstmord ihres Vorbilds Robert Enke zu verarbeiten

Traurige weiße Stellen erinnern in vielen Kinderzimmern an die Poster, die hier bis vor ein paar Tagen hingen. Die Kinder haben sie abgenommen, weil sie das freundliche Gesicht, das da auf sie herabblickte, nicht mehr ertragen konnten. Das Gesicht ihres Idols, ihres Lieblingsfußballers, ihres Hoffnungsträgers. Das Gesicht von Hannover 96. Der Selbstmord von Robert Enke hinterlässt bei vielen Kindern und Jugendlichen eine Lücke, die sie nur schwerlich begreifen können. Eltern, Lehrer und Trainer sehen sich der Aufgabe gegenüber, ihren Schützlingen eine Tat zu erklären, die sie selbst oft nicht verstehen.

Grau ist der Himmel auch am Ende der Woche in Hannover, dichte Wolken und ein leichter Nieselregen verbreiten eine düstere Herbststimmung, die irgendwie angemessen erscheint in einer Stadt, die in Trauer liegt. Am Sonntag werden in der AWD-Arena zur Trauerfeier für Robert Enke 45 000 Menschen erwartet, wer nicht mehr ins Stadion gelangt, kann die Veranstaltung sogar auf einer Videoleinwand an der Nordseite verfolgen.

„Das ist eine traumatische Erfahrung für die gesamte Region“, sagt Bernd Steinkamp. Als Schulleiter der Integrierten Gesamtschule Roderbruch, einer der Partnerschulen von Hannover 96, muss er sich zwangsläufig mit dem Tod von Robert Enke beschäftigen, der ihm als Besitzer einer Dauerkarte selbst sehr nah geht. Eine Schweigeminute gab es, ein Kondolenzbuch. In anderen Schulen wurden Plakate aufgehängt, einige haben Trauerfeiern organisiert.

Gemeinschaftliches Trauern hilft. Auch Tage nach der unfassbaren Tat reißt die Anteilnahme in der Stadt nicht ab. Unter den 35 000, die am Mittwochabend mit einem Trauerzug ihres Torhüters gedachten, waren auch Viviane und Iris, Schülerinnen der 9. Klasse an der IGS Roderbruch. „Ich habe mich so leer gefühlt“, erzählt Viviane, die auch am Donnerstag noch mit einem 96-Trikot in die Klasse gekommen ist – auch viele andere brachten Schals und Trikots mit der Nummer eins zum Unterricht mit. Die meisten Schüler sind hier Fans von Hannover 96, einige nur, um Robert Enke zu sehen. Sie wussten von seinem Engagement für kranke Kinder und Tiere und bewunderten ihn dafür ebenso für seine Leistungen im Tor. „Er war als Mensch vorbildhaft und sportlich die Nummer eins“, sagt Razan. Im Religionsunterricht nehmen die Jugendlichen gerade das Thema Tod durch, ein trauriger Zufall, der ihnen nun einen aktuellen Anlass liefert, über Trauerbewältigung und Versagensängste zu sprechen.

Robert Enke stand vor seinem Tod in der Gunst vieler Fans zurück hinter Spielern wie Ballack, Podolski oder Schweinsteiger. In Hannover aber war das anders, dort, wo das Konterfei des Torhüters von zahlreichen Bussen und Plakaten blickt. Enke gab Hannover 96 ein Gesicht. So regt sich bei den Schülern, die in ihm ein Vorbild verloren haben, noch etwas anderes: Enttäuschung und Wut. „Als ich gehört habe, dass er eine kleine Tochter hat und eine Frau, fand ich es einfach scheiße“, sagt Esma. „Er hat doch eine Verantwortung gegenüber seiner Familie.“ Viele ihrer Mitschüler stimmen ihr zu und zeigen Mitleid für seine Witwe. „Aber er hat doch nicht nur seine Frau allein gelassen“, wendet Philipp ein, der kaum ein Spiel von Hannover verpasst. „Er hat auch die Spieler von 96 allein gelassen.“ Er befürchtet, dass seinem Lieblingsverein nun der Abstieg droht.

Schwieriger noch ist es für die ganz Kleinen, für die Robert Enke vieles von dem verkörperte, was sie sich wünschen: Ruhm, Anerkennung, sportlicher Erfolg. Wie kann Enke, dieses erstrebenswerte Leben nicht mehr leben wollen? In der fünften Klasse des Freien Gymnasiums Hannover, ebenfalls Partnerschule von 96, wurde das Thema gleich am Mittwoch im Werte-und-Normen-Unterricht aufgegriffen – weil die Schüler es wünschten. Die meisten der Zehnjährigen beschäftigt die Frage, warum Robert Enke keine Hilfe annehmen wollte. „Das ist doch keine Lösung“, sagt die kleine Sarah, die regelrecht empört wirkt. Viele machen sich Gedanken um den Zugführer, für den es in ihren Augen besonders schlimm sein muss, einen Nationaltorwart überfahren zu haben. „Ich glaube, Robert Enke wollte einfach bei seiner Tochter sein“, sagt Gina. Dass der Tod seiner Tochter den Torhüter unendlich traurig gemacht hat, das leuchtet ihnen ein. Die Lehrerin erklärt, was Depressionen sind. Sie nicken. Und dennoch bleibt ein großes Fragezeichen auf den kleinen Gesichtern zurück.

Auf dem matschigen Trainingsplatz des SV Arminia Hannover steht eine Gruppe Nachwuchsspieler zwischen großen Pfützen. Hier hat man sich anders als in der Jugend von Hannover 96 dagegen entschieden, den Trainingsbetrieb zu unterbrechen. „Da nehme ich den Jungs doch nur die Freude“, sagt Dirk Hartfiel, Trainer der B-Jugend. Den 15- und 16-Jährigen fällt es an diesem düsteren Nachmittag noch immer schwer, zu glauben, dass Robert Enke nie wieder im Tor stehen wird. Der 15-jährige Sascha erinnert sich an einen Torwarttag mit ihm. „Enke hat mit uns trainiert und gesprochen und sich viel Zeit genommen“, sagt Sascha, der selbst Torwart ist. Jeder Hannover-Fan scheint eine solche Erinnerung an Robert Enke zu haben. Ein Profi zum Anfassen, ohne die üblichen Allüren des Geschäfts.

Der SV Arminia spielt in der Bezirksoberliga, viele der Jugendlichen haben den großen Traum von einem Leben als Profifußballer noch nicht aufgegeben. Doch die Geschichte von Robert Enke lässt sie nachdenklich zurück. „Für mich ist im Kopf eine Fußballwelt zusammengebrochen“, sagt Sascha. „Man denkt immer, dass diese Welt so toll ist. Und jetzt sieht man, wie der Fußball die Menschen zerstören kann.“ Sein Mannschaftskollege Pascal fügt hinzu: „Ich dachte immer es sei so ein leichter Job, wo man einfach nur Fußballspielen geht. Und jetzt erfährt man, was da für ein Druck dahinter ist.“

Man merkt, wie es in den Jugendlichen rumort. Eins haben sie alle gemeinsam: An ihrer Wahrnehmung Enkes als ein außergewöhnlicher Fußballer ändert sein Suizid nichts. Und viele von ihnen ziehen aus seiner Geschichte eine Lehre für ihr eigenes Leben: Wenn es mir schlecht geht, dann suche ich Hilfe. Verstecken, das wissen sie jetzt, macht alles nur noch schlimmer.Seite 23

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