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Sport: Harmonie und Misstrauen in Kalmückien

Wesselin Topalow und Wladimir Kramnik ermitteln den wahren Schachweltmeister in russischer Provinz

Berlin – Die Zeiten, in denen sich Schachgenies misstrauten, sind eigentlich vergangen. Fast freundschaftlich wirken die Bilder von Wladimir Kramnik und Wesselin Topalow bei ihrer Ankunft in Elista, Hauptstadt der autonomen russischen Steppenrepublik Kalmückien. Dort beginnt morgen der mit vielen Erwartungen verbundene Vereinigungskampf: Der Russe Kramnik, sogenannter Weltmeister im klassischen Schach, gegen den Bulgaren Topalow, Titelträger des Weltschachbundes Fide. Die beiden 31 Jahre alten Maestros kamen mit demselben Flugzeug; sie posierten und speisten gemeinsam mit Gastgeber Kirsan Iljumschinow, der zugleich Fide-Präsident und Herrscher über ganz Kalmückien ist; sie spielten eine kurze Showpartie und zündeten in einem buddhistischen Tempel Kerzen an. „Dieses Match wird die Schachwelt ein für alle Mal vereinen, danach werden wir nur noch einen Weltmeister haben“, sagte Iljumschinow.

Die harmonische Stimmung will allerdings nicht ganz zu den ungewöhnlichen Anstrengungen passen, die Iljumschinow ankündigt, um während der zwölf Partien Manipulationen auszuschließen. Auch die Zuschauer sollen mit Metalldetektoren untersucht werden und müssen Handys und sonstige elektronische Ausrüstung abgeben. Zudem verhindere ein rund um die Spielhalle geschaffenes „elektronisches Vakuum“, dass die Spieler gestört werden; so lautet zumindest die offizielle Begründung. In Wirklichkeit sind diese und weitere Maßnahmen von Kramnik gewünscht worden. Der Hintergrund: Als Topalow vor einem Jahr in San Luis/Argentinien Weltmeister wurde, tauchten Spekulationen auf, er könne während der Partien unerlaubte Computerhilfe bekommen haben. Allerdings riet Viswanathan Anand, der in San Luis Zweiter wurde, zur Zurückhaltung: „Das ist ein delikates Thema. Da wir keinen Beweis haben, ist es nicht korrekt, Anklage zu erheben. Ich denke, dass er das Turnier seines Lebens gespielt hat und wir das respektieren sollten.“

Seitdem hat Topalow weitere Turniere gewonnen und den ersten Platz der Weltrangliste erobert. Die Verschwörungstheoretiker sind nicht verstummt. „Was Topalow am Brett macht, ist jenseits menschlicher Möglichkeiten. Ich bin sicher, dass eine Einmischung von außen stattfindet“, behauptete Sergej Dolmatow, früherer Trainer des russischen Nationalteams. Topalows Manager, Silvio Danailow, erwiderte scharf, das Gerede sei eine Kampagne, um Topalow nervös zu machen. „Absolute Paranoia“, schrieb Danailow in einem offenen Brief.

Tatsächlich ist die über hundertjährige Geschichte der WM-Duelle reich an Psychotricks und Misstrauen. Als Weltmeister Boris Spasski im „Jahrhundertkampf“ in Reykjavik 1972 gegen den Amerikaner Bobby Fischer in Rückstand geraten war, vermutete das sowjetische Lager eine geheimnisvolle Strahlung als Ursache für das erfolglose Spiel ihres Mannes. Man ließ die Bühnenbeleuchtung und Fischers Sessel untersuchen. Doch alles, was man fand, waren zwei tote Fliegen. Auch Viktor Kortschnoi fühlte sich gegen Anatoli Karpow 1978 auf den Philippinen einer negativen Strahlung ausgesetzt. Bald verlangte er auch, dass Karpow während der Partien keinen Joghurt mehr gereicht bekam, weil sich etwa in der Wahl der Geschmacksrichtung verschlüsselte Informationen befinden könnten.

Rustam Kasimdschanow, Fide-Weltmeister 2004 und somit Topalows Vorgänger, hält die in Elista getroffen Maßnahmen „für notwendig, um jeden Zweifel ausschließen zu können“. Kasimdschanow lebt in Schönenberg, einem Dorf in Nordrhein-Westfalen, und wird den Kampf von zu Hause aus verfolgen. „Meines Erachtens ist Kramnik der bessere Spieler, ich erwarte, dass er mehr oder weniger souverän gewinnt.“ Kramnik sei ein sehr sauberer Stratege, Topalow hingegen spiele taktisch und kompliziert. „Langweilig dürfte es eigentlich nicht werden.“

Gespielt wird mit langer, klassischer Bedenkzeit, die Partien können über sieben Stunden dauern. Unabhängig vom Ergebnis erhalten beide 500 000 Dollar Prämie. Kramnik, an Arthritis erkrankt, hatte sich Anfang des Jahres einer Therapie unterzogen und zeigte danach bei seinen Erfolgen in Turin und Dortmund aufsteigende Form. Sein Recht auf den WM-Titel gründet sich übrigens auf den in London 2000 errungenen Sieg über den großen Garry Kasparow. Dieser hatte die Fide 1993 verlassen und einen eigenen Verband gegründet. Seitdem gab es viel Chaos und stets zwei Weltmeister. Spätestens am 12. Oktober wird wohl zumindest dieses Problem gelöst sein.

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