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Sie kriegt immer noch die Kurve. Claudia Pechstein gewann in Budapest ihre elfte EM-Medaille. Foto: Reuters

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Sport: Heftig im Aufwind

Claudia Pechstein holt bei der Mehrkampf-EM Silber und überrascht mit ihrer Form auch ihre Trainer.

Berlin - Es ging nur noch um 7,66 Sekunden, es ging nur um Ireen Wüst, um die Frage: Silber oder Bronze? Gold war kein Thema, Gold war vergeben, an Martina Sablikova, die Tschechin. Sie könnte noch stolpern auf der 5000-Meter-Strecke, gut, dann würde sie noch den Titel bei der Mehrkampf-EM der Eisschnellläufer verlieren. Aber damit rechnete niemand. Also sagte Stephan Gneupel vor dem Start, vor dem letzten der vier Rennen: „Claudia, es geht nur noch um Wüst, sie musst du noch abfangen.“ Ireen Wüst, die Niederländerin, hatte 7,66 Sekunden Vorsprung vor Claudia Pechstein. Wüst lag nach drei Rennen auf Rang zwei. Claudia Pechstein aus Berlin auf Rang vier. Aber 5000 Meter ist eine ihrer Spezialstrecken. Und Gneupel, der Mehrkampf-Bundestrainer, ahnte, dass er sich auf Pechstein verlassen kann.

Der Wind wehte heftig über die Eisbahn in Budapest, die Athleten liefen im Freien, auf dem gefrorenen See des Stadtparks, und Pechstein lief rhythmisch, zuverlässig, sie lief 7:34,51 Minuten, sie lief 9,08 Sekunden schneller als Wüst, sie gewann Silber. Und Gneupel sagte: „Tolle Leistung. Sie hat ihre Saisonleistungen bestätigt.“ Sablikova stolperte nicht, sie lief 7:22,38 Minuten, sie holte ihren dritten EM-Titel in Folge.

Aber was sagt das schon aus? Claudia Pechstein hatte ihre 56. Medaille bei internationalen Titelkämpfen gewonnen, sie ist seit 20 Jahren im Geschäft. „Ich freue mich riesig“, sagte sie in Budapest, „ich wusste, dass ich die bessere 5000-Meter-Läuferin bin.“

Statistik spielt bei ihr allerdings eine untergeordnete Rolle. Jede Medaille von ihr ist inzwischen ein bemerkenswertes Ereignis. Deshalb ist auch dieses Silber eine ganz starke Leistung. In sechs Wochen wird sie 40 Jahre alt, sie hat eine zweijährige, psychisch extrem anstrengende Dopingsperre hinter sich. Andere würde danach hinterherlaufen, wenn sie überhaupt noch auf die Bahn gehen würden. Claudia Pechstein läuft wieder in der Weltspitze. „Wir haben gewusst, dass sie eine Kämpferin ist und sich in dieser Saison gut präsentieren würde“, sagt der deutsche Teamleiter Helge Jasch. „Aber dass sie so gut in Form sein wird, das hätten wir nicht gedacht.“ Und Isabell Ost, die wie Pechstein in Berlin trainiert, sagt: „Sie ist von ihrer körperlichen Verfassung her mit einer 25-Jährigen vergleichbar.“ Ost belegte am Ende Rang zehn. Sie ist 17 Jahre jünger als Pechstein.

Es gibt einige Gründe für die außergewöhnlichen Auftritte. Pechstein trainiert mit Männern, sie geht deren hohes Tempo mit, sie absolviert enorm hohe Umfänge, sie hat auch während ihrer Sperre intensiv trainiert. Pechstein hatte schon immer eine extreme Trainingshärte, und ihr Kampfgeist ist seit vielen Jahren legendär. Das Gefühl, Opfer einer Fehlentscheidung des Internationalen Sportgerichts zu sein, das vergrößert diesen Kampfgeist noch. Mit jedem guten Ergebnis befriedigt sie ihr Gefühl, es allen, die sie als Feinde empfindet, gezeigt zu haben.

Pechstein wird auch in den anderen Rennen der Saison vorne mitlaufen, davon sind ihre Trainer überzeugt. In Budapest konnte sie dazu noch ihre ganze Routine ausspielen. „Ihre Erfahrung spielt hier eine zentrale Rolle“, sagt Gneupel. „Vor allem im mentalen Bereich.“ Freiluftrennen mit viel Wind sind eine Art Lotteriespiel. „Bei Gegenwind muss man tief laufen“, sagt Markus Eicher, der Chef-Bundestrainer. „Bei Rückenwind kann man eher entspannt laufen und muss nicht so tief gehen.“ Das ist die Theorie. „Aber die jüngeren Athleten kennen ja nur die Halle, die wissen nicht, wie man im Freien optimal läuft“, sagt Eicher. Pechstein aber „ist auf allen Bahnen dieser Welt gelaufen, sie kann sich auf jede Bedingung einstellen“ (Gneupel). Nur über 1500 Meter war nicht viel zu machen, der Wind blies zu heftig, einigermaßen gute Zeiten waren da einfach nicht mehr drin. „Außerdem ist Claudia da auch noch etwas verkrampft gelaufen“, sagt Gneupel.

Und jetzt reicht es auch mit dieser Windlotterie, Gneupel und Eicher wollen keine Freiluftrennen mehr. Eicher hat schon genug, wenn er sich nur die EM-Zeiten anschaut. „Die sind alle eine halbe Minute langsamer gelaufen als in der Halle. Das ist ja der Wahnsinn.“

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