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Nicht verhandelbar. Für viele Fußballfans gehören Fahnen, Trommeln und bengalische Feuer zu ihrer Kultur.

© dpa

Heilige Kuh und Goldenes Kalb: Was ist eigentlich Fankultur?

Eine neues Forschungsinstitut will die Fankultur im Fußball entschlüsseln, vermessen und ergründen. Dabei stellt sich allerdings die Frage: Was ist das überhaupt und wer bestimmt die Regeln?

Sie vereint, sie spaltet, sie provoziert: Fankultur ist Kampfbegriff, Totschlagargument und Herzensangelegenheit. Jeder Fußball-Anhänger versteht etwas anderes darunter, jeder kann hineininterpretieren, was er will. Insofern wartet auf Harald Lange eine kaum zu bewältigende Aufgabe. „Es ist illusorisch, Fankultur genau definieren zu wollen“, sagt der Sportpädagogik-Professor der Universität Würzburg. Gemeinsam mit anderen Sportwissenschaftlern, Soziologen, Politologen und Kriminologen hat Lange im Januar ein „Institut für Fankultur“ gegründet. Damit nähern sich Harald Lange und seine Kollegen einem Thema, das nicht nur in Deutschland eine Mischung aus Heiliger Kuh und Goldenem Kalb ist. Oder vielleicht nur Bullshit? „Fankultur ist ein mystischer Begriff, der irgendwie unantastbar und fast heilig ist“, sagt der Wissenschaftler. „Man darf nichts dagegen sagen, jeder nimmt für sich in Anspruch, zu wissen, was das ist. Aber niemand muss es preisgeben.“

Was Harald Lange „dechiffrieren, vermessen und beschreiben“ will, möchte Philipp Markhardt in erster Linie bewahren. Der 31-Jährige steht als Fan des Hamburger SV mit seiner Ultra-Gruppierung „Chosen Few“ in den Kurven der Bundesliga, darüber hinaus engagiert er sich bei „ProFans“. Diese Vereinigung hat im Januar einen großen Fankongress in Berlin organisiert, die Idee zu der Zusammenkunft war bei einer Demonstration im Herbst 2010 (siehe Foto) entstanden. Das grundlegende Anliegen beider Veranstaltungen war der „Erhalt der Fankultur“. Für Markhardt hat der Begriff „unglaublich viele Facetten“, Fankultur sei „laut, kreativ, manchmal skurril“. Nicht nur für Ultras wie Markhardt gehören eine ganze Reihe von Ritualen und Utensilien dazu: die gemeinsamen Anreise zum Spiel, die Gesänge im Stadion, Choreografien, Pyrotechnik, Trommeln, Zaunfahnen und eine bestimmte Geisteshaltung, „dieses Wilde, Unangepasste und nicht Begreifbare“. Für Markhardt ist auch klar, was seinem Verständnis von Fankultur widerspricht. „Public Viewing gehört mit Sicherheit nicht dazu“, sagt er. „Das ist ein Event, das von professionellen Veranstaltern auf die Beine gestellt wurde, um ordentlich Geld zu machen.“

Jede Fangeneration sieht sich als wahre Hüterin ihrer Kultur

Wissenschaftler Harald Lange sieht das anders. Für ihn hat Fankultur in Deutschland gerade durch die WM 2006 und die Fanmeile ganz neue Ausmaße erreicht – und ist in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.

„Zur Fankultur eines Landes gehören alle Menschen, die sich vom Herzen her als Fans fühlen“, sagt Lange. „Das sind diejenigen, die in der Kneipe oder zu Hause am Fernseher Fußball gucken – genauso wie die, die im Stadion in der Kurve stehen.“ Aus soziologischer Sicht entwickele sich nun eine Art Wettbewerb. „Wenn das Ganze größer und damit auch unübersichtlicher wird, gibt es Positionsbestimmungen und Abgrenzungsbemühungen“, sagt Lange. „Nach dem Motto: Wer ist denn nun der wirkliche Fan?“ Wie bei der Diskussion um eine deutsche Leitkultur stelle sich die Frage: „Wer bestimmt das?“

Mit dieser Frage sieht sich wohl jeder früher oder später konfrontiert, der ins Stadion geht. Wer feuert die Mannschaft nur an, wenn es gut läuft? Wer singt 90 Minuten lang dasselbe Lied? Wer ist in erster Linie gekommen, um zu pöbeln und zu fluchen? Wer geht zehn Minuten vor Abpfiff, um dem Stau zu entgehen? Wer hat einen Schal dabei? Eine Fahne? Ein bengalisches Feuer? Jede Generation versteht sich als wahre Hüterin ihrer Kultur. Das ist verständlich, führt aber auch zu Konflikten. „Der meistgehörte Spruch ist immer noch: Nimm die Fahne runter!“, erzählt Markhardt. Für ältere Fans ist es bisweilen immer noch schwer, die Rituale der Ultras zu akzeptieren. Auf der anderen Seite sehen auch jüngere Fans nicht ein, wieso sie sich nach den Alteingesessen richten sollen. „Das Gesetz der Fankurve ist: Respekt vor dem Alter“, sagt Markhardt. „Ich sage aber auch: Das Alter muss auch Respekt vor den Aktiven haben!“

Markhardt hat in seinem eigenen Fan-Dasein erlebt, wie sich Fankultur verändert. „Als ich früher die Radiokonferenz im NDR gehört habe und ins Volksparkstadion geschaltet wurde, weil der HSV überraschenderweise ein Tor geschossen hatte, dann hörte man hunderte Gas-Fanfaren“, erinnert er sich. „Das hörte sich auf jeden Fall geil an. Aber das gibt es nicht mehr, das ist nicht mehr erlaubt.“ Bei seinem ersten Stadionbesuch wurde er Zeuge, wie neben ihm ein Skinhead durchsucht wurde, dem ein Schlagring abgenommen werden musste. „Ich bin mit Gewalt im Fußball aufgewachsen“, sagt er heute. Vor ein paar Jahrzehnten waren diskriminierende Sprüche und fliegende Fäuste noch alltäglich in deutschen Stadien, mittlerweile sind Rassismus und Brutalität nicht nur in der Hamburger Szene an den Rand gedrängt geworden: „Man reflektiert sein Verhalten viel mehr, als das früher der Fall war.“ Nicht nur weithin sichtbare Fahnen und laut schallende Tröten sind Teil der Fankultur, sondern auch die innere Haltung.

Wie verteidigt man etwas, das sich ständig wandelt?

Selbst das Aussehen der Fans ändert sich, die mit Schals und Aufnähern zugepflasterten „Kutten“ sind nahezu vollständig aus den Stadien verschwunden. Auch Markhardt hat noch eine Kutte im Schrank hängen, „eine blaue Jeansweste mit diversen Pro-HSV-, Anti-Köln-, Anti-Bayern-, Anti-Bremen und Anti-St.-Pauli-Aufnähern“. Mit zwölf Jahren fand er diesen Aufzug toll, mit 15 Jahren schon nicht mehr. „ Mit einer Kutte rennt heute fast keiner mehr durch die Gegend, die Kutte ist einfach überholt“, sagt Markhardt. „Ich trauere ihr nicht nach. Sie ist aber Teil meines früheren Lebens. Fankultur wandelt sich eben immer.“ Angesichts dieser entspannten Haltung wirkt der Ruf nach einem Erhalt der Fankultur schon beinahe erzkonservativ. Aber wie wie kann man etwas erhalten, was ständig im Fluss ist? „Beim Fankongress ging es darum zu erhalten, was man hat“, sagt Philipp Markhardt. „Und möglichst die Freiheiten für neue Aspekte zu vergrößern. Es geht um Freiräume.“

Wie unterschiedlich diese Freiräume ausfallen können, weiß Daniela Wurbs. Die 31-Jährige ist Geschäftsführerin von Football Supporters Europe, einem Netzwerk von europäischen Fußballfans aus 37 Ländern. Wurbs erlebt in Gesprächen mit Fußball-Anhängern aus ganz Europa immer wieder, dass sich die Fankultur eines Landes stark danach richtet, wie die Gesellschaft mit den Fußballanhängern umgeht. „Je weiter man Richtung Norden hochgeht, desto größer ist das Verständnis dafür, dass man Fans in den Vereinen einbindet. In Norwegen gibt es deshalb zum Beispiel nur wenig Konfliktpotenzial“, sagt Wurbs. „Je weiter man nach Süden kommt, desto weniger gibt es die Tendenz, Fans als es etwas Wertvolles und Positives zu betrachten.“ Entsprechend konfrontativ und radikal seien dann auch die Aktionen einiger Gruppen in diesen Ländern. In England, einst Sehnsuchtsort vieler deutscher Fans, gebe es zudem nun einmal keine Stehplätze und keine Fahnen mehr, die Grundvoraussetzungen sind folglich ganz andere. Die hierzulande heiß diskutierte Pyrotechnik werde beispielsweise durch „eine zarte, klitzekleine Ultra-Bewegung erst ganz langsam zum Thema“, sagt Wurbs. Von einer gemeinsamen europäischen Fankultur könne also keine Rede sein. „Der kleinste gemeinsame Nenner der Fankultur ist natürlich: Wir lieben Fußball und wir wollen unser Team supporten“, sagt Daniela Wurbs.

Harald Lange hat also zumindest einen Startpunkt für seine Forschung. Er will jetzt auch dazu beitragen, dass es zu weniger Missverständnissen kommt und veraltete Bilder und Maßstäbe benutzt werden. „Im Umgang mit Ultras schwingt bei Vereinen, Politik und Polizei immer noch ein bisschen die Idee der Hooligans mit“, sagt Lange. „Das ist aber überhaupt nicht angemessen.“ Im Gespräch mit dem Würzburger Professor merkt man schnell, wie sehr ihn sein neues Forschungsfeld reizt – und dass er sich auf ein langfristiges Projekt einrichtet. „Fankultur wird es auch noch in 100 Jahren geben“, glaubt Harald Lange. „Sie wird aber ganz, ganz anders aussehen.“

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