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Sport: Hemmschwelle Pubertät

Die neue Eiskunstlauf-Meisterin Sarah Hecken darf Deutschland nicht international vertreten – weil sie noch zu jung ist

Annette Dytrt stützte sich mit beiden Händen an die Wand. Von der Ferne betrachtet, von der Eisfläche aus bildete sie einen attraktiven Kontrast zu dem nackten, grauen Beton, an dem sie stand. Eine Frau mit strohblondem Haar, das von einem glitzernden, goldenen Band gehalten wurde, der schmale Körper umhüllt von einem champagnerfarbenen Kleid. Wenn man näher kam, sah man noch andere Details. Die Tränen auf den Wangen, die verheulten Augen, den verzweifelten Blick. Es war 23 Uhr am Freitag, Annette Dytrt aus München hatte gerade einen Absturz hingelegt.

Die Preisrichter bei der deutschen Eiskunstlauf-Meisterschaft hatten sie in der Kür auf Platz drei gesetzt, nur Platz drei, ein völlig unerwartetes, verheerendes Ergebnis in der Dresdner Eishalle. Fünf Punkte Vorsprung hatte sie nach dem Kurzprogramm, der Titelgewinn schien eine Formsache zu sein. „Ich hätte nie gedacht, dass Annette Dytrt nicht gewinnen würde“, sagte Volker Waldeck, internationaler Preisrichter und Juror bei der Damen-Kür. „Ich hätte 1000 Euro auf einen Sieg von Dytrt gesetzt“, erklärte auch eine fassungslose Trainerin, die auf der Tribüne Dytrts Auftritt verfolgt hatte. Die 24-Jährige, nervenschwach wie so oft, stürzte beim dreifachen Toeloop, bei drei Pirouetten und Schritten wählte sie den niedrigsten Schwierigkeitsgrad. Dytrt selber hatte kurz vor Mitternacht immer noch verheulte Augen, aber in üblicher Manier schon wieder einen geschönten Blick auf die ganze Tristesse. „Es war für mich ungewohnt, dass ich als letzte Läuferin meiner Gruppe aufs Eis musste. Ich war eigentlich schon nach dem Warmlaufen bereit.“ Und im Übrigen „war es das erste Mal, dass ich einen Wettkampf so in den Sand gesetzt habe“. Sie ist vermutlich schon ein Dutzend Mal als Gruppenletzte aufs Eis, und sie hat schon diverse Wettkämpfe in den Sand gesetzt. Aber sie darf ja trotzdem zur EM und vermutlich auch zur WM.

Die Deutsche Meisterin und die Vizemeisterin sind noch zu jung, um bei einer EM oder WM zu starten. Sarah Hecken aus Mannheim, die Siegerin, ist 14, Isabel Drescher aus Dortmund, die Zweite, sogar erst 13. Erst als mindestens 15-Jährige darf man bei einer Senioren-EM oder -WM aufs Eis. Hecken überzeugte mit hohen Schwierigkeitsgraden bei Schritten und Pirouetten, auch Drescher bot schon ein beachtliches Niveau. Reinhard Ketterer, der Leitende Landestrainer von Berlin, hatte die beiden schon mehrfach in seinen Lehrgängen. „Sie haben ein hervorragendes Bewegungsgefühl“, sagt er. „Drescher ist ein Rohdiamant, der noch nicht geschliffen ist. Hecker hat als Diamant sogar schon ein paar Facetten.“ Vor allem, sagt Ketterer, ist „ihre Sprungtechnik gut ausgeprägt“. Hört sich alles gut an, es gibt nur ein kleines Problem: Es gab schon viele Rohdiamanten im deutschen Eiskunstlauf. Ketterer kennt genügend. Aber er kennt auch „genügend Fälle“, in denen diese Rohdiamanten glanzlos blieben und bald vergessen waren.

Die große Kunst ist es jetzt, Läuferinnen wie Hecken und Drescher behutsam über die größte Hürde zu bringen. „Sie sind beide noch nicht richtig in der Pubertät“, sagt Ketterer. „Und Pubertät ist ein Unternehmen mit unbekanntem Ende.“ Trainer und Verband, sagt der Coach, der mal Pädagogik mit Ziel Lehramt studierte, seien jetzt extrem gefordert. „Man muss mit viel Einfühlungsvermögen führen.“ Setzt man Talente zu sehr unter Leistungsdruck, verlieren sie die Orientierung. Eva-Maria Fitze war auch mit 14 Jahren Deutsche Meisterin, hatte einen Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“ und wurde vom Verband und ihrer Trainerin als kommender Star verkauft. Unter dem Erwartungsdruck brach sie ein und erkrankte an Magersucht. Talente in diesem Alter, sagt Ketterer, „darf man nicht in Wettkämpfe treiben, bei denen sie erfolgreich sein sollen“. Sie sollen vor allem Erfahrung sammeln. Zudem verlieren gerade pubertierende Frauen einen großen Teil ihres ausgeprägten Bewegungsgefühls. Kompensieren lässt sich das mit einer guten Technik. Doch die muss bis zur Pubertät möglichst gut sein. In der DDR galt: „Wer bis zur Pubertät keine Dreifachsprünge kann, wird es nie mehr lernen.“ Sarah Villanueva hat die Pubertät hinter sich, sie ist jetzt 20, doch auf ihren Durchbruch wartete man vergeblich. Die Eiskunstläuferin aus Dortmund hatte eine außergewöhnliche Ausstrahlung und eine ausgeprägte Technik. Doch sie scheiterte bisher an persönlichen Problemen und einem überehrgeizigen Vater. Die Tochter löste sich zu wenig von ihm, hatte Probleme in der Schule und betrachtete Training mitunter als nette Bewegungstherapie. In Dresden ist sie gar nicht am Start.

Udo Dönsdorf, Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union (DEU), empfahl ihr im vergangenen Sommer entnervt, sie solle es doch mal mit Paarlauf versuchen. Sie hat sich seither nie mehr gemeldet.

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