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Favre

© ddp

Hertha BSC: Spiel in Grenzen

Mühsame Aufbauarbeit: Herthas Trainer Favre hat zwar eine Idee vom Fußball, doch sein Team bringt sie nicht auf den Rasen.

Berlin - Lucien Favre ist auch nach einem halben Jahr bei Hertha BSC noch eine Attraktion. Während des Trainingslagers auf Teneriffa steht der Trainer des Berliner Fußball-Bundesligisten an der Seitenlinie und beobachtet die taktische Übung seiner Spieler. Aber was heißt beobachten? Favre kommentiert, greift ein, hilft, verbessert – und verzweifelt. Hinter der Absperrung, ein, zwei Meter von Favre entfernt, steht ein Tourist aus Berlin, das Handy am Ohr. „Haste gehört?“, fragt er. „Favre steht neben mir und schreit.“ Dann hält er sein Telefon in die Luft, um das Spektakel unkommentiert in die Heimat zu übertragen.

Als Lucien Favre vor der Saison aus der Schweiz nach Berlin kam, brachte er seinen Ruf gleich mit: den Ruf, ein großer Fußballversteher zu sein. Ein ganzer Verein, ach was, die ganze Stadt hat sich ihm an den Hals geworfen, weil er glaubhaft den Eindruck vermittelte, einen Plan zu haben. Einen Plan hat Favre in der Tat, nur umsetzen konnte ihn seine Mannschaft bisher nicht. „Die Spieler tun sich schwer damit“, sagt Herthas Kotrainer Harald Gämperle, der seit vier Jahren mit Favre ein Team bildet.

Der Schweizer lässt zehn gegen zehn spielen, ohne Tore und auf komprimiertem Raum. Auf je 25 Meter diesseits und jenseits der Mittellinie ist der Platz beschränkt; Ziel ist es den Ball über die Grundlinie zu spielen. Unter diesen Bedingungen soll die Mannschaft all das zeigen, was Favre sehen will: die kollektive Balleroberung, das schnelle Umschalten, viel Bewegung ohne Ball. Aber Favre sieht wenig davon: „Die Abwehr spielt komplett falsch!“, ruft er. „Das ist nichts!“ Er wundert sich über das mangelnde Gespür der Spieler für die Gefahr. Geißelt Ballverluste in der Vorwärtsbewegung: „C’est pas possible de perdre le ballon là.“ Unmöglich, dort den Ball zu verlieren. „Einfacher!“ Und klagt über falsches Positionsspiel: „Komm zurück! Position!“

Christian Hochstätter, der Manager von Hannover 96, sitzt bei Herthas Testspiel gegen Grasshopper Zürich hinter der Bank der Berliner. Er beobachtet, wie Favre auf das Geschehen auf dem Platz reagiert, wie er seine Mannschaft dirigiert und ihre Fehler korrigiert. „Man kann erkennen, was er will“, sagt Hochstätter. „Das ist ein guter Trainer.“ Hertha verliert 0:1.

Es ist Spekulation, ob Favre in Berlin mit schnelleren Fortschritten gerechnet hat. Mit dem Kenntnisstand von heute, nach 20 Punkten und Platz zwölf am Ende der Hinrunde, sagt Favres Assistent Harald Gämperle: „Für uns war klar, dass es nicht einfach wird.“ Kurioserweise lief es am Anfang der Saison besser als zum Schluss, im September war Hertha für eine Nacht sogar Tabellenführer. „Favre ist kein Guru“, sagt Steve von Bergen, den der Trainer vom FC Zürich zu Hertha geholt hat. Der Innenverteidiger kennt die Ideen seines Trainers schon aus der Schweiz. „Seine Philosophie ist nicht kompliziert“, sagt er. Aber ihre Umsetzung erfordert bestimmte Voraussetzungen.

Favre verlangt Technik in Bewegung, einen permanenten Spielfluss, wie er früher bei der brasilianischen Nationalmannschaft zu sehen war. Für seinen Ein-Kontakt-Fußball benötigt er Spieler, die ein Spiel lesen können, die beidfüßig sind, technisch gut und handlungskreativ. „Er ist nicht der einzige Trainer, der so spielen will“, sagt Steve von Bergen. „Das ist Fußball 2000.“

Herthas Spieler aber sind längst noch nicht in der Moderne angekommen. Sie laufen falsch, passen schlampig, spielen zu kompliziert. Gämperle sagt, die Spieler gäben sich Mühe. Dass sie Fehler machten, „das akzeptieren wir“. Genau so wichtig wie die Schulung des vorhandenen Personals ist es Favre aber, Spieler zu verpflichten, die seine fußballerischen Ideen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch beherrschen. Herthas Trainer hat mehrmals gesagt, dass der Erfolg zu 85 Prozent von den richtigen Transfers abhänge. „Wir wissen heute schon, welche Spieler wir im Sommer gerne hätten“, sagt sein Assistent Gämperle.

Beim Taktiktraining ruft Favre in engen Situationen immer wieder: „Turn the ball!“ Spiel den Ball zurück! Anders als in der deutschen Nationalmannschaft, in der Rückpässe auf dem Index stehen, sind sie bei Favre ein legitimes Stilmittel. Sein Fußball lebt viel weniger von Automatismen als das Spiel der Nationalmannschaft. Der erste Pass aus der Abwehr soll scharf kommen, schnell, flach und direkt, er muss aber nicht – wie in der Nationalmannschaft – vertikal gespielt werden. Bundestrainer Joachim Löw hat einmal gesagt, werde der erste Ball falsch gespielt, sei das ganze Aufbauspiel tot; bei Favre kann das Spiel mit jedem Rückpass wiederauferstehen und neu beginnen. Den Ball halten und im entscheidenden Moment zuschlagen, so stellt er sich das vor. Gämperle sagt: „Irgendwo wird sich immer eine Lücke finden lassen und eine Lösung ergeben.“

Wer Favres Fußball in Perfektion sehen will, muss sich eine Videokassette von einem Spiel der Bayern aus den Achtzigern besorgen und sie im Schnellvorlauf abspielen. Oder hoffen, dass der Trainer aus der Schweiz mit Hertha in absehbarer Zeit erkennbare Fortschritte erzielt. Favre arbeitet sehr akribisch an den Details. „Wenn er einen Meter sagt, meint er auch einen Meter“, sagt Steve von Bergen. Entweder die Mannschaft begreift irgendwann, was er will – oder Hertha muss sich einen anderen Trainer suchen. Kompromisse in Stilfragen wird es mit Favre nicht geben. Als Solomon Okoronkwo im Training nach einem Zweikampf schreiend zu Boden geht, ruft Favre: „Weiter!“ Okoronkwo bleibt liegen, die Spieler zögern, ob sie den Ball ins Aus spielen sollen. „Weiter!“, ruft Favre. Dann geht er auf den Platz, packt Okoronkwo an den Armen und zerrt ihn auf die Beine.

Aufbauarbeit ist manchmal ganz schön mühselig.

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