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Sport: Hertha und die Kontingenz

Zum Anforderungsprofil eines neuen Berliner Cheftrainers

Folgen wir – was bleibt übrig – weiterhin Dieter Hoeneß, so „hätte es auch gut gehen können“. Das mit Stevens, dem Abstieg und ihm selbst. Hoeneß bleibt keine Wahl. Er muss das jetzt sagen. Und wir Berliner müssen ihm glauben. Außerdem trifft es zweifellos zu: Zwar hätte es in den letzten Wochen nicht schlechter, aber durchaus anders laufen können. Das Hoeneßsche Versagenslied vom Immer-auch anders-möglich-sein-können ist kein beliebig angestimmter Gesang. Es trifft den Kern des Fußballs.

Schenkt man der Kulturphilosophie Glauben, bestimmt dieses unter dem Begriff „Kontingenz“ gefasste Phänomen des Auch-anders-möglich-sein gar unser gesamtes modernes Wirklichkeitsempfinden. Die Unabsehbarkeit des Ausgangs mag das Wesen jedes Spiels treffen. Doch gibt es derzeit keine Mannschaftssportart auf der Welt, die Kontingenz konsequenter inszenierte als der moderne Fußball. Darin liegt seine unheimliche Anziehungskraft.

Die jüngste Pokalrunde mit ihren erwartbaren Sensationen verdeutlicht dies günstig. Weder im Basket- und Handball noch im Eishockey oder Rugby bieten sich einem qualitativ deutlich und sichtbar unterlegenen Team bessere Siegchancen als im Fußball. Die fundamentale Unverfügbarkeit des Fußballresultats lässt sich weder von erdrückender spielerischer Dominanz noch unbedingtem Einsatzwillen, ja nicht einmal von einer Kombination beider Kernkomponenten aus dem Konzept bringen. In den resignierten Worten von Manager Hoeneß hängt jede Partie am seidenen Faden. Und selbst wenn es 90 Minuten richtig gut läuft, geht es noch lange nicht gut aus. Ein ums andere Mal umspielt der Fußball so jenes verheerende Dogma des Abendlandes, nach dem es für alles, was irgendwie schief läuft, auch einen vernünftigen Grund, einen behebbaren Mangel und dementsprechend auch ein benenn- und auslöschbaren Schuldigen geben muss.

Herthas hilfloser Rechtfertigungszyklus steht beispielhaft dafür: von einem anfänglich aufrichtigen „im Moment wissen wir auch nicht, woran es liegt“ über anonyme Standards wie „mangelnde Einstellung“, „Fehlen letzter Konsequenz“ zur detaillierteren Druckentwicklung der „enttäuschenden Neuzugänge“, „katastrophales Abwehrverhalten“, von der paradoxen Ultimatumsvereinbarung über bereits hoffnungsfreie Schutzfinten à la „der Trainer steht nicht auf dem Platz“, und das Letztmittel der Starverbannung führte Hoeneß, da „alle Register gezogen waren“, schließlich zu seiner alles andere als kontingenten Einsicht des „es hätte auch gut gehen können“. Eben. Niemand ist schuld. So ist Fußball, unser Leben.

Nun gibt es aber nicht wenige Menschen, unter ihnen erfolgreichste Trainerweise, die sich genau damit nie abfinden werden und die man deshalb am ehesten als Kontingenzverächter verstehen lernt. Felix Magath, Matthias Sammer und, selbstverständlich, Huub Stevens sind prominente Beispiele. Ihr systematisch hochkomplexes Spielideal zielt auf die Auslöschung des Kontingenzfaktors ab. Sie überlassen, wie man sich einig ist, „nichts dem Zufall“, arbeiten „höchst akribisch“, nehmen jede Niederlage persönlich und wissen im Stillen immer, woran es eigentlich lag. Ohne wirklich souverän zu wirken, lachen sie selten und niemals über sich. Was Ironie ist und kann, wollen sie nicht begreifen. Diese Trainer gehen nie freiwillig, denn sie werden sich nie eingestehen, letztlich auch keinen Erfolg gehabt haben zu können. Wir wollen über diese Menschen nicht richten. Aber eines ist augenfällig: Als Trainer sind sie definitiv nicht metropolentauglich. Ihr Spielideal verkörpert das genaue Gegenteil von dem, was heißt, die Erfahrung einer Großstadt zu genießen.

„Der ständige Übergang, das Flüchtige und das Kontingente“, so lautete einst Baudelaires bündige Beschreibung des modernen Großstadtgenusses. Seltsam präzis trifft sie noch heute den Charakter eines befreiten Fußballfestes. Im erfolgsversessenen Berlin wurde schon ewig keines mehr gefeiert. Seit Manager Hoeneß auswählt, fehlten die entsprechenden Trainer; mit der bemerkenswerten Ausnahme der Übergangslösung Falko Götz. Dessen einstiger Assistent, Andreas Thom, wurde jetzt als neues Zufallskind auserkoren oder, in Thoms Wortwahl, „mit der Aufgabe konfrontiert, die Mannschaft zu übernehmen“. Er gab bei seinem erdnahen Erstauftritt gar nicht erst an, zu wissen, was wohl in Zukunft werde. Er „stelle sich halt der Situation“, wolle zunächst für Lockerheit und Überraschungen sorgen. Es waren nur wenige, flüchtige Worte. Aber da sprach ein Berliner. Und sollte Dieter Hoeneß am Ende der Saison tränenerlöst darüber aufklären, das Experiment mit Andreas Thom „hätte auch schief gehen können“, wir wollten ihm gerne glauben.

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