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Die jüdische Hoffnung. Gretel Bergmann im Juli 1936 auf dem Sportplatz der Jüdischen Gemeinde in Berlin-Grunewald. Zu dieser Zeit durften Juden nur noch auf ihren eigenen Plätzen und in ihren eigenen Hallen und Schwimmbädern Sport treiben.

© AKG

Hochspringerin Gretel Bergmann: Hitlers jüdisches Alibi

Die Nazis betrogen Gretel Bergmann 1936 um ihre Olympiateilnahme. Sie hätte eine Medaille gewinnen können. Nun ist sie im Alter von 103 Jahren gestorben.

Tod einer großen Sportlerin: Laut "New York Times" starb die Leichtathletin Gretel Bergmann am Dienstag im Alter von 103 Jahren. Aus Anlass Ihres Todes veröffentlichen wir nochmals eine Würdigung ihres Lebens, die erstmals 2009 im Tagesspiegel erschien.

Einen Albtraum ist Gretel Bergmann nicht losgeworden. Sie steht mitten im Berliner Olympiastadion, die Blicke von 100 000 Menschen rasen auf sie zu, jeder einzelne scheint sie zu treffen. Ihr kommt es vor, als trügen alle Nazi-Uniformen, die schwarzen der SS oder die braunen der SA. Jetzt ist sie an der Reihe, sie muss springen – aber es geht nicht. „Ich konnte keinen einzigen Muskel bewegen.“ In Wirklichkeit hat sie nicht einmal die Chance dazu bekommen.

Eine Stehplatzkarte war alles, was die Nazis Gretel Bergmann für die Olympischen Spiele 1936 angeboten haben. Dabei hatte die Reichssportführung sie gezwungen, für die Spiele in Deutschland zu trainieren. Und kurz zuvor hatte sie den deutschen Hochsprungrekord eingestellt. Sie war eine Medaillenkandidatin. Doch die Nazis wollten einer Jüdin nicht die Gelegenheit geben, ihre Rassentheorie zu überspringen.

Gretel Bergmann ist eine von drei jüdischen Leichtathletinnen im Mittelpunkt der Ausstellung „Vergessene Rekorde“, die an diesem Sonntag im Centrum Judaicum eröffnet wird. Fotografien zeigen eine junge Frau mit entschlossenem Blick und langen Beinen. Im Septemberkommt der Film „Berlin 36“ ins Kino, er beruht auf ihrer Geschichte. Gretel Bergmanns Geschichte lebt gerade auf, weil die Leichtathletikwelt im August ins Olympiastadion zurückkehrt. Die Weltmeisterschaften sind die größten Leichtathletikwettbewerbe seit den Spielen von 1936.

Sie will zu den Olympischen Spielen - für Großbritannien

Am Ende des Films kommt Bergmann selbst zu Wort, aufgenommen in diesem Jahr in ihrem Haus in New York. 95 Jahre ist sie im April geworden, und zu sehen ist eine Frau von besonderer Altersschönheit. Vital geblieben trotz aller Schikanen. Dem Tagesspiegel hat sie in einer E-Mail geschrieben: „Ich wusste von Anfang an, seit 1934, dass ein Weg gefunden werden würde, um mich auszuschließen und davor fürchtete ich mich Tag und Nacht.“

Zum ersten Mal schneiden ihr die Nazis 1933 den Weg ab. Die Mitgliedschaft in ihrem Ulmer Sportverein wird ihr gekündigt. Der „Arierparagraph“ ist gerade erlassen. Ein Studium an der Hochschule für Leibesübungen in Berlin kann sie nicht aufnehmen. Zu dieser Zeit hatte sich Gretel Bergmann jedoch längst für den Sport entschieden. Sie will zu den Olympischen Spielen. Wenn nicht für Deutschland, dann eben für Großbritannien. Im Herbst 1933 emigriert sie.

"So gut kann eine Jüdin sein, ihr Bastarde"

Zu ihrem starken Willen kommt jetzt Wut: Sie hofft, „dass ein neuer Rekord, eine Meisterschaft irgendwie den deutschen Behörden zu Ohren käme, mit der unüberhörbaren Botschaft: Seht her ihr Bastarde, so gut kann eine Jüdin sein.“ Das steht in ihren Erinnerungen „Ich war die große jüdische Hoffnung“, die 2003 in Deutschland erschienen. Als sie diesen Wunsch spürt, ahnt sie nicht, dass sie mit ihrem Erfolg zum Objekt in einem perfiden politischen Spiel werden würde.

Sie wird 1934 Britische Meisterin im Hochsprung. Doch statt mit ihr den Sieg zu feiern, muss ihr Vater ihr in England nach dem Wettbewerb eine Nachricht überbringen: Sie soll zurück nach Deutschland, auf Anordnung der Nazis. Die wollen die Olympischen Spiele als größtmögliche Propaganda veranstalten. Dafür müssen aber alle Länder teilnehmen, und in manchen wie den USA wird angesichts der deutschen Hetze gegen Juden schon über einen Boykott nachgedacht. Das Internationale Olympische Komitee, IOC, fordert die Gleichbehandlung der jüdischen Sportler in Deutschland. Gretel Bergmann soll nun der Welt zeigen, dass alles gar nicht so schlimm ist.

Eine Wahl lassen die Nazis ihr nicht. Sie drohen, die gesamte jüdische Sportbewegung in Deutschland aufzulösen und sprechen auch gegen ihre Familie Drohungen aus. „So wurde ich zum Lockvogel, zur Schachfigur in Hitlers politischem Täuschungsmanöver.“ Zur Alibijüdin.

Sie nimmt in Deutschland das Training auf und ist die einzige „Volljüdin“ in der deutschen Olympiamannschaft. Wenige Wochen vor den Spielen soll sie in Stuttgart an einem Wettbewerb teilnehmen, im „Adolf-Hitler-Stadion“. Sie stellt den deutschen Rekord ein: 1,60 Meter. Sie gehört zu den Weltbesten. Bei der Nominierung der Olympiamannschaft scheint kein Weg mehr an ihr vorbeizuführen.

Die Rolle des späteren IOC-Präsidenten

Hätte diese Geschichte eine andere Wendung nehmen können? Avery Brundage hatte es wohl in der Hand, der Präsident des olympischen Komitees der USA und spätere Präsident des IOC. 1972, bei den Spielen in München, wird er nach dem Attentat palästinensischer Terroristen auf israelische Sportler sagen: „The games must go on.“ Die Spiele müssen weitergehen. Dem Sport hat er damit wahrscheinlich einen Gefallen getan. 1936 tut er Hitler einen Gefallen.

Brundage setzt die Teilnahme der USA durch und ignoriert die Judenhetze der Nazis. Historiker werden ihm später selbst Antisemitismus nachweisen. Außerdem scheint die Nominierung der Fechterin Helene Mayer in die deutsche Mannschaft die amerikanische Öffentlichkeit zu beruhigen. Sie ist „Halbjüdin“, Olympiasiegerin von 1928 und in den USA bekannt, sie lebt dort.

Am 15. Juli 1936 verlässt das Schiff mit der amerikanischen Olympiamannschaft den Hafen von New York. Am 16. Juli wird ein Brief aufgegeben, der kurz darauf bei Gretel Bergmann eintrifft. Absender: Deutscher Reichsbund für Leibesübungen. „Der Herr Reichssportführer…hat es nicht vermocht …Sie in die Mannschaft… einzureihen. Sie werden auf Grund der in letzter Zeit gezeigten Leistungen wohl selbst nicht mit einer Aufstellung gerechnet haben.“ Eine Stehplatzkarte wird ihr angeboten. Weitere Unkosten könnten nicht übernommen werden. Heil Hitler!

Lieber eine Deutsche weniger, als einer Jüdin eine Chance geben

„Es war ein bitteres Erwachen aus dem wunderschönen Traum. Ich hatte nie zuvor so viel Zorn, so viel Wut erlebt“, schreibt Gretel Bergmann. Ein bisschen erleichtert sei sie auch gewesen: „Schluss mit den Überlegungen, ob ich den Arm zum Hitlergruß heben müsste.“

Das IOC reagiert nicht. In der deutschen Olympiamannschaft wird erzählt, sie sei verletzt. Das berichtet ihr später Elfriede Kaun, die im Hochsprung Dritte wird und wie die Zweite 1,60 Meter bewältigt, Siegerin Ibolya Csak aus Ungarn schafft im Stechen 1,62. Am Start sind nur zwei Springerinnen aus Deutschland, obwohl drei Plätze zur Verfügung stehen. Bergmanns Platz lässt die Nazi-Sportführung unbesetzt: Lieber eine Chance weniger für Deutschland, als eine Chance für eine Jüdin.

Für Bergmann kommt jetzt nur eines in Frage: Emigration. 1937 gelingt ihr die Ausreise in die USA. Dort gewinnt sie amerikanische Meisterschaften und denkt wieder an eine Olympiateilnahme, 1940. Doch Hitler überfällt Polen, der Zweite Weltkrieg beginnt, und die Spiele fallen aus. Auch ihr Mann Bruno Lambert hat die Emigration geschafft, etwas später als sie. Für andere reicht es nicht mehr. 30 Familienmitglieder ihres Mannes werden von den Nazis ermordet.

Bei ihrer Ausreise aus Deutschland hatte Gretel Bergmann zwei Entschlüsse gefasst: Nie wieder deutschen Boden zu betreten und nie wieder Deutsch zu sprechen, sie nimmt den Namen ihres Mannes an und heißt heute Margaret Lambert.

An den ersten Entschluss hält sie sich nicht. 62 Jahre nach ihrer Auswanderung, 1999, nimmt sie in Frankfurt am Main den Georg-von-Opel-Preis entgegen. Auch in ihr schwäbisches Heimatstädtchen Laupheim reist sie, sogar noch einmal 2003. Dort wird der Sportplatz nach ihr benannt, so wie es seit 1995 in Berlin-Wilmersdorf die Gretel-Bergmann-Sporthalle gibt. „Als wir gemeinsam das Schild „Gretel-Bergmann-Stadion“ enthüllten, bekam ich eine Gänsehaut“, schreibt sie. „Es war so ironisch: 1933 hatten mich die Nazis von allen öffentlichen Orten verbannt, und jetzt trug einer dieser öffentlichen Orte für immer meinen Namen.“

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