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Hooligans hatten ein „Fest der Gewalt“ angekündigt. Bislang ist es ruhig.

© picture alliance / dpa

Hooligans in Russland: Wird es Ausschreitungen bei der WM geben?

Bisher ist es um die russischen Hooligans bei der WM ruhig geblieben. Wird das auch beim Spiel Russland gegen Kroatien so bleiben? Unterwegs mit einem Hooligan erster Stunde.

Fünf gegen einen. Der junge Mann mit dem rot-weißen Trikot hat keine Chance, als die Angreifer über ihn herfallen. Er liegt auf dem Boden, Tritte gegen den Rücken, in die Hüfte. Zum Glück geht es ganz schnell, nach nicht mal zwölf Sekunden ist alles vorbei.

Der Vorfall ereignete beim Spiel zwischen Argentinien und Kroatien. Er ist auf einem Video festgehalten, und eigentlich passen die Bilder nicht zum Zwischenfazit, das WM-Organisatoren, Fans und Journalisten ziehen: Alles gut in Russland, alles ruhig, keine Randale, nur sehr viele Fans in sehr lustigen Outfits. Und nun dieser Clip.

Werden wir also doch Zeuge von Hooligankämpfen wie bei der EM 2016? Erwartet uns Krawall statt Remmidemmi?

„Ach, komm“, sagt Jewgeni, der dieses Video auf seinem Smartphone abgespielt hat. „Das war eine spontane Prügelei im Stadion, weil ein Typ etwas Dummes gesagt oder gemacht hat. Das passiert in jeder Dorfdisco. Mit Hooligans hat das nichts zu tun.“

Jewgeni, Mitte 40, Poloshirt von Kappa, schwarze Cap, sitzt in einer Kellerkneipe im Zentrum von Moskau. Ein Zwei-Meter-Koloss, breite Schultern, kantiges Gesicht, aber wenn er spricht, wirkt er beinahe sanft und schüchtern. Er hat eine wilde Jugend hinter sich und eine schräge Vita. Dieser Mann, der so groß und mächtig erscheint wie die Sowjetunion vor ihrem Untergang, war einer der ersten harten Jungs in den Moskauer Fankurven. Einige würden ihn Ultra nennen, andere Hooligan. Im März 1994 gründete er mit ein paar Freunden die erste Spartak-Moskau-Firm. Sie nannten sich „Flint's Crew“, den Namen hatte Jewgeni aus einer Textzeile der deutschen Heavy-Metal-Band Running Wild. Jene neunziger Jahre waren für ihn und seine Freunde, die allesamt hinter dem eisernen Vorhang aufgewachsen waren, der Aufbruch in eine neue Zeit. Sie testeten Grenzen aus und studierten Hooliganfilme wie „I.D.“ oder „Ultrà“, als wären es heilige Schriften. Sie streiften sich Fred-Perry-Shirts über die Riesenkörper und zogen in den Krieg gegen die „Red Blue Warriors“ von ZSKA und „Blue White Dynamite“ von Dynamo. Manchmal kam er nach Hause, und sein Gesicht sah aus wie ein explodiertes Minenfeld. Ihre Kultur nannten sie nicht Hooliganismus, sondern „Okolofutbola“. Das bedeutet: neben dem Fußball.

Angst vor Ausschreitungen wie bei der EM 2016

Parallel studierte Jewgeni Jura, promovierte sogar. Aber als Anwalt hat er nie gearbeitet. „Das kann man nicht in Russland“, sagt er. „Nicht in Putins Mafia-System.“ Eines Tages ließ er es gut sein mit den Prügeleien. Er trat einem Kirchenchor bei und fand den Weg zu Gott. Heute, sagt er, assistiert er bei Exorzismen. Und weil das alles wirklich ein wenig verrückt klingt, sagt er: „Kein Scherz.“ Sei ja ein bisschen wie früher, als er seinen Kontrahenten auf der Straße die Seele aus dem Leib prügelte. So zieht er heute den Menschen den Teufel aus dem Körper.

Vor der WM war die Sorge groß, dass Hooligans in Russland alles kurz und klein schlagen. So wie in Marseille, bei der EM 2016, als 200 kampfsporterprobte russische Junghools 2000 alte Fans aus England durch die Stadt jagten. Einige Schläger kündigten danach für die WM 2018 ein „Festival der Gewalt“ an, vor allem die britische Presse warnte beinahe täglich vor der Reise nach Russland. Vielleicht sind auch deswegen vergleichsweise wenige Fans aus England gekommen.

Jewgeni hat der medialen Hysterie von Anfang an nicht getraut. Er ist immer noch gut vernetzt in der Szene und bewegt sich durch die Stadt wie ein Pate. Er ist ein „Top Boy“, wie man im Hooligan-Milieu sagt. In der Kneipe räumen sie die Tische frei, wenn er kommt. Sie nicken ihm ehrfurchtsvoll zu, wenn er sich setzt. „Ein Mango-Saft“, sagt er. Und in Sekundenbruchteilen steht jemand neben ihm und gießt ein.

Die WM-Spiele verfolgt er nicht im Stadion, zu groß, zu teuer, zu aufgeblasen. Aber klar, am Fernseher schaue er sich das alles schon an, so wie heute, Uruguay gegen Portugal. „Ich hoffe, dass die Südamerikaner weit kommen“, sagt er. „Die Fans entspannen die ganze Situation mit ihrer positiven Art sehr.“

Die Ansage an mögliche Hooligans: Urlaub oder Arbeitslager

Tatsächlich ist vor allem Moskau voll von südamerikanischen Fans, selbst die längst ausgeschiedenen Peruaner sind noch da. Jeden Abend feiern sie mit tausenden Menschen aus aller Welt eine große Party. Sie tanzen, sie nehmen sich in den Arm, sie trinken Bier auf der Straße. Eigentlich ist das illegal, zumindest die Sache mit dem Bier. Aber was soll die Polizei machen?

„Viele Menschen spüren momentan eine große Freiheit, die ihnen völlig unbekannt ist“, sagt Jewgeni. „Ich sehe dort jeden Abend junge Hools von Spartak oder ZSKA, die überhaupt kein Interesse daran hätten, diese positive neue Atmosphäre zu zerstören.“ Die meisten Hooligans sind eh nicht mehr in den WM-Städten. Vor dem Turnier bekamen sie Hausbesuche, einige erhielten sogar Drohanrufe. Die Ansage lautete: Datscha oder Sibirien! Was so viel heißt wie: Wenn ihr während der WM nicht in den Urlaub fahrt, geht's ab ins Arbeitslager. Auch Denis Nikitin hat das Weite gesucht. Der Betreiber der Neonazi-Klamottenmarke „White Rex“ gilt in der russischen Hooliganszene als treibende Kraft, 2016 soll er maßgeblich an den Krawallen beteiligt gewesen sein. Wenige Tage nach Turnierstart schreibt er eine Nachricht: „Ich habe Moskau verlassen für die WM-Zeit.“ Mit Wladimir Putin möchte auch er sich nicht anlegen.

Jahrelang haben Politiker die Schläger genährt und protegiert. Einige arbeiteten im Sicherheitsdienst von hochrangigen Politikern. Der Hooligan und Neonazi Alexander Schprygin, ein Duzfreund von Putin, fuhr sogar als russischer Fanbeauftragter zur EM 2016. Aber in diesen Wochen soll sich Russland offen und bunt präsentieren, sogar die Regenbogenflagge darf mal hängen. Und da kann Putin keine Schlägertypen gebrauchen.

Was wird passieren, wenn Männer am falschen Ort zu viel Alkohol trinken?

Trotzdem kann natürlich niemand Garantien geben, dass es ruhig bleibt in Russland. Was passiert, wenn die Sbornaja ausscheidet? Was wird beim Viertelfinalspiel Russland gegen Kroatien passieren, deren Fans ebenfalls eine nicht gerade pazifistische Hooliganszene haben? Wenn sich Engländer und Russen im Halbfinale treffen? Wenn Männer am falschen Ort und zur falschen Zeit viel Alkohol trinken?

Es habe ja weitere Keilereien gegeben, die kaum jemand mitbekommen hat, sagt Jewgeni. Portugiesen sind etwa mit Spaniern aneinandergeraten. Ein West-Ham-Fan soll in einem Zug randaliert haben. Schwedische Fans hätten sich in Nischni Nowgorod ein wenig gekeilt. Aber nichts Ernstes bislang.

Das Spiel Kolumbien gegen England könnte brisant werden, sagt Jewgeni schließlich, weil die Fans zusammen in der Metro zurück in die Stadt fahren. Und es heißt, dass das Fanfest am Sonntag nicht wegen des schlechten Wetters abgesagt wurde, sondern weil die Veranstalter Angst hatten, die Russen könnten ausscheiden. „Aber das ist nur ein Gerücht“, sagt Jewgeni. „Und davon gibt es in Russland sehr viele.“

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