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Sport: Im Ausnahmezustand

Heute beginnt die Tour de France – und für drei Wochen gibt es in ganz Frankreich kaum ein anderes Thema

Fein säuberlich eingerahmt und handsigniert hängen die Trikots an der Wand des Bistros „La Pause Beaubourg“. „Von Lance Armstrong für Phil“ steht auf dem Gelben Trikot der Tour de France 2002. Direkt daneben das Gepunktete Trikot von Richard Virenque aus dem Jahr 1994, natürlich ebenfalls mit Unterschrift und Widmung. „Darauf bin ich besonders stolz, denn das hat er damals am Tourmalet zum ersten Mal gewonnen und mir eines mit Autogramm geschenkt“, sagt Phil. Er betreibt zusammen mit seiner Frau ein typisches Pariser Bistro, in dem man morgens seinen kleinen Espresso mit Croissant zu sich nimmt und später dann einen Croque Monsieur: Zwei Toastscheiben mit Schinken und Käse überbacken. Doch Phils Leidenschaft ist der Radsport.

„Ich fahre selbst seit vielen Jahren und kenne auch einige Profis“, erzählt er stolz. Wie jedes Jahr ist er vollkommen aufgeregt vor der Tour. „Es ist einfach das größte Sportereignis in Frankreich“, sagt Phil. In seinem Bistro läuft immer Sport im Fernsehen. Die Fußball-EM, Tennis, aber am liebsten natürlich Radsport. „Wir werden hier jede Etappe zeigen“, sagt Phil. Aber seine Stimme ist etwas betrübt. Denn es hat sich vieles geändert in den vergangenen Jahren. „Vor allem wegen des Dopings“, sagt er und blickt dabei etwas traurig auf das Cofidis-Trikot, das seit dem Dopingskandal um das Team versteckt in einer anderen Ecke hängt. Und tatsächlich bewegt die Franzosen in den Tagen vor der Tour wieder einmal dieses eine heikle Thema.

Hat der Toursieger Lance Armstrong nun gedopt oder nicht? Und was ist mit all den anderen? Die Tour startet heute mit einem Fahrer weniger. Gorka Gonzalez aus dem Team des Mitfavoriten Iban Mayo wurde wegen auffälliger Blutwerte schon ausgeschlossen. Werden wir wieder so ein Fiasko erleben wie 1998, als der Sport im Meer der Dopingmeldungen unterging? In allen Zeitungen gibt es Interviews mit Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc mit immer denselben Fragen und denselben Antworten. Doch spätestens ab heute sind wieder alle angesteckt vom Virus Tour de France. Doping hin oder her. Warum aber ist der Virus so ansteckend?

Sabrina ist eine junge Redaktions-Mitarbeiterin von „L’Equipe“, der größten Sportzeitung Frankreichs. „L’Equipe“ ist so etwas wie die Bibel für jeden, der mit der Tour de France zu tun hat. Sabrinas Erklärung für den Mythos ist simpel: „Es ist eines der ältesten Sportereignisse in Frankreich und es ist seit jeher gratis.“ Die Großeltern haben die Eltern mitgenommen, die Eltern nehmen jetzt ihre Kinder mit und die Kinder werden irgendwann ihre Söhne und Töchter mit zur Tour nehmen. Die Passion für die Rundfahrt ist eine jahrelange Erziehung von Generation zu Generation.

Seit Dekaden stehen Tausende am Straßenrand und jubeln den Helden zu. Manchmal bekommen sie die Fahrer nur für Sekundenbruchteile zu sehen. Das genügt, um einen Mythos zu bilden. „L’Equipe“ wird mit 25 Mitarbeitern bei der Tour de France vor Ort sein. Aber die große Schleife hat Konkurrenz bekommen. „Durch das Fernsehen ist die Tour noch populärer geworden, aber sie ist nicht mehr das einzige Highlight. Es gibt noch die French Open, die Formel 1 und natürlich Fußball.“ Die EM sei rein sportlich gesehen für die Franzosen das wichtigere Ereignis. Was daran liegt, dass die französischen Fahrer seit einigen Jahren nicht mehr zu den Anwärtern auf das Gelbe Trikot zählen. „Wir haben keinen Jan Ullrich, einen, der den Mut zum Sieg hat“, sagt die „Equipe“-Mitarbeiterin. Sie sagt Ullrich und nicht Armstrong. Dabei ist es doch der Amerikaner, der schon fünfmal bewiesen hat, wie mutig er ist.

Doch der Amerikaner und die Franzosen – das passt einfach nicht. Sie respektieren ihn und seine Leistung. Aber was sie nicht wollen, ist ein Amerikaner, der zum Rekordhalter bei ihrer Rundfahrt wird. Ein Amerikaner, der sechsmal die Tour gewinnt und damit die fünffachen Champions Anquetil, Merckx, Hinault und Indurain in den Schatten stellt. Beinahe schon beschwörend rollen die Zeitungen und Magazine die Geschichten, wie sie alle gescheitert sind beim Versuch, zum sechsten Mal zu gewinnen.

Außerdem hegen die Franzosen immer mehr Sympathien für den Schwächeren, den Zweiten. Es sind genau diese Duelle zwischen David und Goliath, die den Reiz der Tour ausmachen. Die Heldengeschichte, die der vom Hodenkrebs genesene Lance Armstrong vorlebt, ringt den Franzosen Respekt ab. Mehr nicht. Sie warten geduldig auf den Sieg Davids. Phils Frau geht es genauso. „Er ist kein Schlechter“, sagt sie über Armstrong. Aber ihr Herz schlägt für den Rivalen von Armstrong. Diesmal will sie ihn als Sieger feiern. Er soll der David sein. „Ich hoffe wirklich, dass Ullrich gewinnt.“

Heute im Fernsehen:

Prolog in Lüttich,

live im ZDF.

SENDEBEGINN 17.05 Uhr.

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