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Akt der Dummheit. Boca-Fans werfen gelbe Nebelkerzen auf River-Fans. Foto: Reuters

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Sport: Im Nebel der Geschichte

In der Krise werden sich die beiden argentinischen Erzrivalen Boca Juniors und River Plate immer ähnlicher

Berlin - Es war ein verzweifelter Akt der Dummheit. Gerade war das 0:1 gegen sie gefallen, in dem Fußballspiel, das für die Argentinier die Welt bedeutet, da warfen die Boca-Fans im Gästeblock dutzende Nebelkerzen hinab auf die River-Fans in der Kurve unter ihnen. Wie schon beim Anpfiff verschwand das Monumental-Stadion in Buenos Aires in einem unwirklichen Nebel aus Rauchbomben, Knallkörpern, Gesängen und Konfetti. Das Unabänderliche verschleiern konnten die Boca-Fans aber nicht mehr: River Plate hatte gewonnen im 330. „Superclásico“, wie das Derby gegen den Lokalrivalen Boca Juniors genannt wird. Dass mit Jonathan Maidana ein ehemaliger Boca-Spieler vor 50 000 Zuschauern das entscheidende 1:0 für River geköpft hatte, machte für die Gäste alles nur noch schlimmer.

Doch es war mehr als nur das. Nach dem Spiel strich sich Juan Román Riquelme nachdenklich über sein Kinn und sagte: „Es war ein langweiliges, ein plattes Spiel.“ Das war bemerkenswert, denn zum einen hatten alle Hoffnungen in Sachen Spielkultur auf Riquelmes Rückkehr gelegen, nachdem er ein halbes Jahr verletzt ausgesetzt hatte. Und zum anderen stand der Kick sinnbildlich für den Zustand der beiden argentinischen Vorzeigeklubs und des argentinischen Fußballs. Riquelme, der bei der WM 2006 schon als Maradonas Nachfolger galt und in Europa scheiterte, ist mit 32 Jahren noch Bocas größter Star, neben dem 37-Jährigen Martin Palermo, Bocas Rekordtorschützen.

Bei River sieht es ähnlich aus: Dort ragen nur zwei 36-Jährige heraus – Ariel Ortega, der bei der WM 1998 schon als Maradonas Nachfolger galt und in Europa scheiterte, und der aus dem Ruhestand zurückgeholte Matias Almeyda. Junge Spieler kommen kaum nach, das Niveau leidet. Seit Bocas Sieg 2003 hat kein argentinischer Verein mehr die Vereins-WM gewonnen, dabei ist Argentinien Rekordhalter, was Weltpokalsiege angeht. Die Zeiten sind vorbei, in denen gute Argentinier zuerst zu den Großklubs wechselten, wie einst Alfredo di Stefano zu River oder Diego Maradona zu Boca, bevor sie dem großen Geld nach Europa folgten.

2009 haben 1716 argentinische Fußballer das Land verlassen, mehr als Brasilianer Brasilien (1443). Immer öfter warten sie ihr Debüt in der argentinischen Primera Division gar nicht mehr ab und wechseln schon in der Jugend, wie etwa Lionel Messi zum FC Barcelona. Das einstige Monopol der Großklubs auf Talente ist damit gebrochen. Sowohl River, mit 33 Titeln Rekordmeister, als auch Boca, mit 18 internationalen Trophäen wie der AC Mailand weltweit führend, hinken in der argentinischen Liga nur hinterher. Seit vier Spielzeiten gewinnen beide keine Titel mehr, River ist sogar vom Abstieg bedroht. Trotz der komplizierten Quotifzientenregelung, die sich nach dem Punkteschnitt in den letzten drei Jahren richtet und daher die alteingesessenen Klubs bevorteilt.

Und so werden sich die beiden Erzrivalen in der Krise immer ähnlicher. So wie damals, als beide Klubs im selben Viertel von Buenos Aires gegründet wurden, der anrüchigen Hafengegend La Boca. In den dreißiger Jahren zog River dann nach Norden, ins Nobelviertel Nuñez, und begann, Spieler in Gold zu bezahlen – der Spitzname Millonarios war geboren. Boca blieb im Süden und Arbeiterverein. Das Duell Reichen- gegen Armenklub polarisierte das Land, laut Umfragen sind zwei Drittel der Argentinier Fan von einem der beiden Vereine.

Doch in den letzten Jahren änderte sich plötzlich etwas. Unter dem Unternehmer und Klubchef Mauricio Macri, mittlerweile Bürgermeister von Buenos Aires, wandelte sich Boca im vergangen Jahrzehnt zum Fußballunternehmen. Eintrittskarten werden nur noch an zahlende Mitglieder verkauft. Für Rivers Heimspielstätte Monumental gibt es hingegen fast immer Karten zu moderaten Preisen. Und so wurden im Monumental in den letzten Jahren immer öfter Fanbanner aus Villa Fiorito ausgerollt – jenem Elendsvorort, aus dem einst Bocas Idol Maradona seinen sagenumwobenen Aufstieg schaffte.

Und wenn der Erfolg ausbleibt, Unterschiede verschwinden, wenn der Armenklub reich wird und die Armen zum Reichenklub gehen, wenn die Identitäten verschwimmen, dann kommt Verzweiflung auf, die mehr schmerzt als jede Niederlage im Superclásico.

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