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Sport: In Europa exklusiv

Bei der EM stürzt sich keine so gewagt vom Turm wie die Springerin Annett Gamm

Im Moment, sagt Annett Gamm, träumt sie nur wirres Zeug. Geschichten ohne Beginn und Ende. Sie schüttelt kurz den Kopf, als wäre ihr das peinlich. Vielleicht ist es die Aufregung, die sie so wirr träumen lässt. Die Aufregung darüber, dass sie den Sprung jetzt beherrscht. Den dreifachen Salto rückwärts. Den zweitschwierigsten Sprung der Welt im Turmspringen. Nur fünf Frauen auf der Welt können ihn. Und nur eine in Europa. Annett Gamm aus Dresden. Deshalb ist die 25-Jährige auch Medaillenkandidatin bei der EM. Der allerschwierigste Sprung der Welt ist der dreieinhalbfache Auerbach: nach vorne gucken auf dem Brett und dann dreieinhalb Salti rückwärts. Das kann nur eine Frau. Eine Mexikanerin.

Der Sprung, das große Geschenk

Geträumt hatte Annett Gamm auch in der Nacht, bevor sie den zweitschwierigsten Sprung der Welt das erste Mal fehlerfrei ins Wasser brachte. Im Traum war sie auch fehlerlos gesprungen. Gamm hatte sich diesen Tag, an dem sie ihr Debüt geben wollte, sorgsam ausgesucht. Sie sagt: „So einen Sprung schüttelst du nicht aus dem Ärmel“, sagt sie, „ich musste wissen, das ist der richtige Tag.“ Denn bei diesem Sprung muss man sich irrsinnig schnell drehen, das gelingt nur, wenn man absolut fit ist.

Der richtige Tag kam im Januar 2001, und dass sie in der Nacht zuvor von ihrem Sprung geträumt hatte, lag natürlich an der Nervosität. Aber es spielte noch mehr mit. Ein unglaublicher Reiz. Die Turmspringerin hat zu diesem Salto ein ganz eigenes Verhältnis. Er ist das große Geschenk, auf das sie immer gewartet hat. „Den dreieinhalbfachen Salto rückwärts“, sagt Annett Gamm, „wollte ich immer springen.“ Sie spricht fast liebevoll von dem Sprung. So reden andere Menschen über ihre Kinder.

Sie stand dann in dieser Schwimmhalle in Dresden. Sie war EM-Vierte, sie hätte sich jetzt mit ihrer Routine beruhigen können. Aber das schaffte sie nicht. Sie stand oben, auf dem kalten Beton der Plattform, und fiel in ein schwarzes Loch. „Ich hatte alles vergessen, was ich gelernt hatte.“ Vier Monate hatte sie auf diesen Sprung hingearbeitet. Sie drückte sich ab, wirbelte durch die Luft und tauchte ein. Ihr Trainer Frank Taubert sagte: „Der Sprung war o.k.. Man hat gesehen, dass Du wusstest, wo Du warst.“ Annett Gamm zitterte am ganzen Körper. Später belohnte sie sich mit einem Glas Sekt. „Und am Abend ging ich mit dem Sprung ins Bett.“ Sie war jetzt Mitglied in einem der exklusivsten Zirkel des Frauen-Turmspringens.

Ohne die Bundeswehr hätte sie das nicht geschafft. 1999 verpflichtete sich die Arzthelferin, nun hatte sie Zeit fürs Training. Im Februar zeigte Annett Gamm den Salto bei den Deutschen Meisterschaften, nach zehn Trainingssprüngen. Es gab Springer, die hatten den Salto noch nie im Wettkampf gesehen, bis ihn Annett Gamm zeigte. Erst standen sie mit offenem Mund da, dann gratulierten sie.

Aber etwas fehlte noch. Es fehlte dieses Gefühl absoluter Perfektion. Die Sportsoldatin wollte diesen Salto makellos springen. Beim Springer-Grand-Prix in Moskau, im Frühjahr 2002, hatte sie dieses Ziel erreicht. Die Halle war voll, die Leute feierten, es war eine Atmosphäre, die mitriss. Denn Dimitri Sautin sprang auch, der russische Ausnahmeathlet, der Weltmeister. Annett Gamm stand auf dem Turm, und sie wusste: „Dieser Sprung wird optimal.“ Und: Sie flog so schön und so elegant wie noch nie, und wie sie seither nie mehr fliegen sollte. Als sie eintauchte, tobten die Zuschauer. Die Kampfrichter gaben ihr 83 Punkte. Noch nie hatte sie eine so hohe Punktzahl erreicht. Sie landete auf Platz drei. Männer aus der deutschen Nationalmannschaft kamen auf sie zu, sagten: „Wenn ich diesen Sprung nur auch so gut könnte.“ Ein russischer Trainer schickte ihr später ein Fax: „Glückwunsch“. Aber am wertvollsten, sagt Gamm, war der Moment, als ein kleiner, muskulöser Mann zu ihr kam und sagte. „Gut gemacht.“ Es war Dimitri Sautin.

Von der Sonne geblendet

Moskau ist jetzt auf immer der Maßstab. „Ich setze mich zu sehr unter Druck“, sagt die 25-Jährige. „Ich stehe oben und sage: Ich muss jetzt so gut springen wie in Moskau.“ Beim Champions-Springen in Stockholm scheiterte sie an dieser Erwartung und verpasste den Sieg. Und vor zwei Wochen, beim Weltcup in Sevilla, plumpste sie auf Platz 21. Aber da wurde sie auch von der Sonne geblendet, und sie hatte sich noch nicht an die Anlage gewöhnt. Aber in Berlin kennt sie die Anlage. Finale ist am Dienstag, ab 14.05 Uhr.

Doch Annett Gamm setzt sich auch Grenzen. An den schwierigsten aller Sprünge, den dreieinhalbfachen Auerbach, wagt sie sich nicht heran. „Ich brauche ihn nicht“, sagt sie. „Meine jetzige Sprung-Serie ist schwierig genug.“ Außerdem hat sie Angst. „Ich weiß nicht, ob ich den Auerbach springen würde, wenn ich oben stünde.“ Wahrscheinlich hält sie aber auch nur der Respekt vor ihrer bisherigen Leistung ab. Wenn sie sich an den schwierigsten Sprung wagte, hätte der andere etwas von Zweitrangigkeit.

Manchmal schaut Annett Gamm sich das Video von ihrem Debütsprung noch an. „Und dann“, sagt sie, „bekomme ich eine Gänsehaut.“ Frank Bachner

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