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Von sich selbst erschöpft. Den Hochleistungssport sieht Ines Geipel als System, aus dem am Ende "Hunderte kaputt rausfallen"

© Imago/Sven Simon

Ines Geipel im Interview: "Der Sport produziert Opfer in Permanenz"

Sport kann die Schriftstellerin und Anti-Doping-Aktivistin Ines Geipel angesichts der vielen Geschichten von Geschädigten nicht mehr genießen - und hat dennoch Hoffnung.

Frau Geipel, warum haben Sie an diesem Mittwoch mit dem „Goldenen Band der Berliner Sportpresse“ einen Preis von Sportjournalisten angenommen, obwohl Sie häufig die Jubelberichterstattung kritisieren?

Es ist ein besonderer und traditionsreicher Preis. Danke! Ich nehme ihn an, weil er in meinen Augen ein Zeichen ist, ein Impuls, mag sein, ein weiterer Anstoß. Die Profiduzer unter den Sportjournalisten gehören immer kritisiert. Die machen nur Murks. Aber es geht ja auch anders.

Ein Anstoß inwiefern?

Für die Berliner und Brandenburger Sportjournalisten ist diese Ehrung ein echter Schritt und noch immer nicht gewöhnlich. Natürlich weiß ich, dass es wunderbare und kritische Journalisten in der Branche gibt. Aber die Mehrheit moderiert sich weiterhin über das Desaster des Sports hinweg. Und da ist so ein Preis an jemanden wie mich vielleicht so etwas wie ein Hoppla. Es stört, worin man sich so prima eingerichtet hat. Das gefällt mir freilich.

Nehmen Sie in der Berichterstattung über Sport Veränderungen wahr?

Es gibt ständig Veränderungen, klar, aber ich staune doch, wie groß nach wie vor die Bereitschaft der Journalisten ist, das Märchen des Sports immer wieder neu aufzuladen. Unter den Fernsehjournalisten gibt es zwar Leute wie Hajo Seppelt, aber die dürfen dann ihre Filme bringen, wenn das Land längst in die Heia gegangen ist. Bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften werden die Kritiker wie Running Gags dazwischengeschnitten und so zu medialen Hampelmännern gemacht. Die Großerzählung bleibt von all dem unberührt. Das ist kompletter Irrsinn.

Was meinen Sie damit?

Schauen Sie sich die großen Sportevents an und das Verhältnis von Jubelgelaber und kritischer Berichterstattung. Das wenige Kritische soll dann wohl die Entschuldigung für die Mainstreamdröhnung sein. Aber was soll der Fan damit anfangen? Oder ein Beispiel im Kleinen: Wir haben in diesem Jahr als Doping-Opfer-Hilfe im Osten 15 Informations- und Beratungstage vor Ort gemacht, weil die Geschädigten aus gesundheitlichen Gründen nicht zu uns nach Berlin in die Beratungsstelle kommen können. Und da fragt man sich dann schon, warum die regionalen Medien mehrheitlich nicht in der Lage sind, über diesen Termin vorab im Sinne der reinen Bürgerinformation zu berichten. Was die Ost-Medien bis auf wenige Ausnahmen in Sachen DDR-Sport immer noch hinlegen, ist verantwortungslos hoch drei. Opfer? Gab es damals nicht, also gibt es auch heute keine. Nee, da kommt keine Luft dran.

Wann hat Sie zum letzten Mal ein Sportjournalist mit aktueller Berichterstattung unterhalten oder begeistern können?

Ach, schwierig das. Selbst die, von denen ich den Eindruck habe, sie sind durchaus kritisch, sind am Ende nicht sicher vor der eigenen Begeisterung. Begeisterung ist ja schön und gut, aber was, wenn sie auf Kosten der Realität geht? Ich hatte im Sommer eine Diskussion mit Journalisten, die ich wirklich schätze, über die Leichtathletik-WM in London. Da kam dauernd das Argument: Aber es sind so schöne Körper, und die Bewegungen sind so schön. Okay. Und dann, wie weiter?

"Die Schizophrenie der Journalisten zwischen Realität und Publikumswünschen"

Wie viel von der Ästhetik des Sports, der Dramatik des Wettkampfs und der Emotionalität der Athleten kommt überhaupt noch an Sie heran?

Es funktioniert nicht mit der Unschuld einer auf den ersten Blick wunderbaren Sache, wenn man jeden Tag ihren Schaden anzuschauen hat. Die Unschuld ist futsch, ob man will oder nicht. Die lange Todesliste, hunderte behinderte Kinder, Krebse, Psychosen, die vielen enteigneten Körper und Seelen. Wir betreuen als Doping-Opfer-Hilfe aktuell 1500 ehemalige Athleten, und es werden jeden Tag mehr. Ich bin den Journalisten, die das Thema immer wieder aufgreifen, ungemein dankbar, dass sie das tun. Dieses große Drama des organisierten Sports wird sich durch die Gesellschaft Stück für Stück durcherzählen. Aber wir sind noch nicht durch.

Gab es zuletzt noch Momente im Leistungssport, bei Olympischen Spielen oder einer WM, die Sie bewegt haben?

Na klar, meistens passiert das ja in jungen Sportarten, die noch nicht so verbrannt sind. Eine Zeitlang hat mich das Kickboxen der Frauen beeindruckt, aber da scheint auch schon wieder einiges an Chemie drin zu sein. Man kann das sehen, wie sich die Performance, der Kampf verändert. Und mitunter entdeckt man ja mitten in dem großen Businesssport jemanden, dem es gelingt, das Karussell auszuknocken. Das berührt mich dann schon sehr.

Wen haben Sie da vor Augen?

Erinnern Sie sich an den Australier Steven John Bradbury bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City? Ich war damals in Sidney, als er als völliger Außenseiter im Shorttrack Olympiasieger wurde. Er hatte eigentlich null Chance, in keinem seiner Rennen, aber links und recht purzelten sie alle nur so übers Eis. Er hatte das absolute Sturzglück. Das australische Fernsehen brachte seinen Sieglauf – er war der Einzige, der überhaupt in dem Rennen übrig blieb – unter dem Slogan „Last man standing“ in Dauerschleife, wochenlang. Und die Leute in den Kneipen hatten Tränen in den Augen. Ich auch. Es machte so glücklich. Bradbury war das Gegenprinzip dieser Art Spiele.

Ist aber auch schon ein bisschen her.

Stimmt.

Ines Geipel war Sprinterin in der DDR. Sie ist anerkanntes Dopingopfer. Seit 2013 ist sie Vorsitzende des Vereins Doping-Opfer-Hilfe. An der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" hat sie eine Professur für deutsche Verssprache.
Ines Geipel war Sprinterin in der DDR. Sie ist anerkanntes Dopingopfer. Seit 2013 ist sie Vorsitzende des Vereins Doping-Opfer-Hilfe. An der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" hat sie eine Professur für deutsche Verssprache.

© Kai-Uwe Heinrich

Wenn Sie Sport im Fernsehen verfolgen, hören Sie da noch genau hin oder nehmen Sie die Reporterstimme nur als Kulisse wahr wie Fangesänge?

Ich nehme es wahr als eine permanent laufende Schizophrenie. Als Schizophrenie der Journalisten, die unentwegt abwägen müssen zwischen dem, was die Realität ist und dem, was das Publikum offenkundig im Kopf hat und sich für den Nachmittag oder Abend auf dem Sofa wünscht. Zumindest geht man ja bei den Fans davon aus, dass sie beschissen werden wollen.

Dieses Ritual scheint vor allem noch im Fußball zu funktionieren, andere Sportarten kämpfen darum, überhaupt wahrgenommen zu werden.

Der Fußball hat den anderen Sport geschluckt. Aber was ist der Fußball? Die überhitzte Globalerzählung des Sports, die auf moderne Ersatzreligion getrimmt wird. Das kann nur schief gehen. Falsche Sommermärchen, Doping, Korruption, Megadeals, das weiter tabubesetzte Schwulsein der Spieler? Noch läuft es ja, noch speist sich der Ballmythos alles ein und wird nur stärker daran. Aber jeder Mythos hat auch seinen Kippmoment… Naja, und dennoch gibt es ja immer auch noch was anderes.

Jetzt bin ich gespannt.

Wenn ich hier in Berlin drei Jungs auf einer Wiese mit einem Ball daddeln sehe, komme ich nicht dran vorbei. Das lässt sich durch nichts tot machen. Und auch das, was an Energie und Vernunft in diesem Kinder- und Jugendsport geschieht, ist großartig. Was das für tolle Leute sind, die da ihre ganze Lebenszeit reingeben, als Lehrer, Betreuer, Trainer. All das ist in unserem Land richtig gut aufgestellt. Aber irgendwann geht der Schalter halt rum. Dann heißt es Kader, Leistung, Normen, Medaillen, Team D. Und dann wird es oft eng.

"In ihrem Umfeld wird in einem fort gestorben"

Wir leben in sehr politischen Zeiten und viele Themen sind sehr schwer. Da stellt sich umso mehr die Frage nach einem Gegenpol, nach einer Entlastung. Kann das der Sport nicht mehr, als Spiel wahrgenommen zu werden?

Der Sport kann nicht der Ablasshandel für eine Gesellschaft sein, die aus dem Lot geraten ist und sich entlastet, in dem sie sich die Krankheit des Sports wegblinzelt. Wohin soll das führen? Nein, der Sport produziert Opfer in Permanenz, auch heute. Immer sind das sehr junge Menschen. Meist stecken sie in massiven Abhängigkeiten. Und das geht nicht, das geht unter keinen Umständen. Es muss uns endlich was anderes einfallen, als ständig tolle Leute vorn in das System reinzustecken und hinten fallen dann Hunderte von ihnen kaputt raus, für die sich niemand mehr zuständig fühlt. Das muss der Sport, das muss die Politik endlich zusammen denken. Die stärksten Signale auf Reorganisation kommen gegenwärtig von den Aktiven selbst. Dass die deutschen Athleten jetzt für ihre Autonomie gegenüber dem organisierten Sport kämpfen und eine eigene Vertretung gegründet haben, ist das Schönste, was in diesem Jahr im deutschen Sport passiert ist.

Aber wie soll Selbstbestimmung möglich sein, bei all den Einflüssen von Verbänden, Sponsoren, Medien im Sport?

Egal, wie wir den Sport definieren, der Kern ist und bleibt der Athlet. Diese ganze Spitzensportreform zielt schon in der Sprache völlig an ihm vorbei. Aber wir brauchen nicht Technokraten, sondern verantwortliche Leute, die die Athleten in ihrem Hochrisikogeschäft krisenfest machen.

Ich habe letzte Woche eine sehr berührende Erfahrung machen dürfen. Eine Trainerin hat sich bei ihren Schützlingen entschuldigt, weil sie ihnen zu DDR-Zeiten Dopingmittel verabreicht hatte. Und es war zu spüren, was das mit den Athletinnen gemacht hat, wie entlastend und befreiend das war. Und das ist der Punkt: Funktionäre, Landessportbünde, ein Deutscher Olympischer Sportbund, die ganze Politikercrew um den Sport – wozu braucht man diese ganze, oft noch steuerbezahlte Armada eigentlich? Nicht der Athlet muss unentwegt evaluiert werden, erstmal sind die dran, bei denen es vor allem ums Dinieren und Werte ruinieren geht.

Wo war das mit der Entschuldigung?

In der Rhythmischen Sportgymnastik. Vor einem Jahr hatte sich eine Gruppe von Gymnastinnen bei uns gemeldet. Wir sind ja längst nicht mehr nur beim Doping, es geht um Sportopfer, um Gewalt, Sadismus, sexuellem Missbrauch. Diese Trainerin hat es geschafft, das Gespräch zu suchen und hat sich glaubhaft entschuldigt. Zur Geschichte der Frau gehört, dass sie selbst bis 1974 aktiv war und auch ins DDR-Staatsdoping involviert war. In all das muss Licht, noch immer viel mehr Licht. Die Verbände gehören in die Pflicht genommen. Sie können sich nicht auf ewig wegducken, die Trainer nicht, die Ärzte nicht, die Funktionäre nicht. Wir kommen ja ohnehin in ganz neue Bereiche. Jetzt machen sich endlich die Männer auf.

Wen meinen Sie?

Boxer, Ringer, Judoka, Eishockeyspieler, Fußballer, Gewichtheber. Die kommen je in der Gruppe zu uns mit ihren verkrüppelten Hoden, den kranken Kindern, den Krebsleiden, den weiblichen Brüsten. Das sind nochmal andere Erzählungen. Frauen und Männer gehen mit ihren Schäden anders um. Mein Eindruck ist, dass Männer darin auf andere Art und Weise allein sind. Weil vielleicht mehr oder anderes wegbricht. Nicht nur die Siegerzählung, nicht nur der Körper, sondern eben auch der klassische Part des Versorgers.

Haben Sie eine Erklärung, warum sich gerade jetzt so viele Männer melden?

Es geht ihnen schlecht, richtig schlecht. In ihrem Umfeld wird in einem fort gestorben. Das erhöht den Druck. Man weiß es von anderen gesellschaftlichen Phänomenen wie Depression oder Missbrauch, dass Männer Zeit brauchen. Sie sind im Schnitt zehn Jahre später dran als Frauen. Dass sie nun überhaupt kommen und sich endlich Hilfe holen, ist enorm wertvoll. Vor zwei Woche haben wir in Schwerin die erste Langzeitstudie zu physischen und psychischen Langzeitschäden von Doping vorgestellt. Eine Reihe Männer ist hinten geschlossen rausgegangen. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass es Boxer waren. Sie haben sich gemeldet und am Telefon gesagt, dass sie raus mussten, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben. Und nun kommen sie doch. Und auch in der Gesellschaft verändert sich ja was.

Was denn?
Über all die Jahre nach 1989 gab es im Osten in der Bevölkerung viel Abwehr: Die wollen uns unsere DDR-Geschichte wegnehmen, hieß es. Jetzt kommen die Leute und sagen: Das haben wir nicht gewusst. Das finden wir schrecklich. Es tut uns leid. Für die Opfer ist das ungemein wichtig. Immerhin geht es um ein staatliches Verbrechen. Damit will ich sagen: Was grad läuft, ist eine echte Umerzählung. Die falschen Glanzbilder des Ostens verschwinden, die Wunden werden sichtbarer, der Blick ist aufmerksamer geworden.

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