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Thorgrimur Thrainsson, 57, arbeitet auch als Motivator. Sein Motto: Respekt und Disziplin.

© Kristothorgrims/Wikipedia

Island bei der EM in Frankreich: "Die EM ist wichtiger, als Präsident zu werden"

Kinderbuchautor, fast Staatsoberhaupt von Island und heute Mädchen für alles im Betreuerstab des Nationalteams: Thorgrimur Thrainsson erklärt das isländische EM-Märchen.

Herr Thrainsson, dürfen wir Ihnen ein Video vorspielen?

Sicher. (Das Video zeigt isländische Fans vor dem Spiel gegen Portugal, die ein furchtbar herzzerreißendes Lied singen.) Unser Lied! Ég er kominn heim (Ich komme nach Hause). Ich habe das gefilmt. Ein wunderschöner Moment, ich hatte Tränen in den Augen. Wobei ich mir gar nicht sicher war, ob so eine Aufnahme überhaupt erlaubt ist.

Und?
Ist es. Zum Glück. Ich habe es auf meiner Facebook-Seite hochgeladen, es hat sich wahnsinnig schnell verbreitet und dann setzte mir einer meiner Kollegen den Floh ins Ohr, dass solche Aufnahmen im Innenraum nicht von der Uefa zugelassen seien. Was mich wiederum dazu verleitet hat, das Video von meiner Facebook-Seite zu nehmen (lacht). Aber jetzt ist ja alles gut.

Wenn wir anderen Medien wie dem „Guardian“ Glauben schenken dürfen, dann sprechen wir gerade mit dem Mentalcoach der isländischen Nationalmannschaft.
Das ist nicht ganz richtig. Ich bin zwar Teil des Stabs, habe aber keine fest zugewiesene Aufgabe.

Und was machen Sie dann?
Vor zehn Jahren habe ich angefangen, im isländischen Verband mitzuarbeiten, war einer von zwei Mitarbeitern, die mit dem Team durch die Welt reisten. Und seitdem mache ich so ziemlich alles. Mal sammle ich die Bälle ein, mal unterhalte ich mich mit jungen Spielern, sie sprachen von dem Video – auch das ist meine Aufgabe, ich filme und mache Fotos, nach dem Turnier bekommt jeder Spieler dann ein Erinnerungsvideo. Ich bin einfach da, wo man mich braucht.

In Deutschland sagt man: Mädchen für alles.
Korrekt! Und übrigens: Den Mentalcoach mache ich dann auch mal, wenn es ein Spieler braucht. Bei diesem Turnier gehöre ich erstmals zur offiziellen Delegation, was bedeutet, dass ich erstmals für diesen Job Geld bekomme (lacht).

Bevor wir weiter über die Nationalmannschaft sprechen: Wie verdienen Sie denn sonst Ihr Geld?
Puh, jetzt haben Sie einen viel beschäftigten Isländer gefragt. Und hier bei uns macht eigentlich jeder mindestens drei Jobs. Das ist unsere Mentalität – und vielleicht auch unser Schlüssel zum Erfolg. Von 1979 bis 1990 war ich Spieler für Valur Reykjavik und machte 17 Länderspiele. Mit 30 fing ich dann an, Kinderbücher zu schreiben, bis heute sind 31 davon erschienen – leider ist noch keins davon in eine andere Sprache übersetzt worden. Falls also ein deutscher Verlag interessiert sein sollte: Melden Sie sich (lacht)!

Fußballer, Kinderbuchautor – was noch?
Mit 40 habe ich angefangen, als Redner und Motivationscoach zu arbeiten. Heute besuche ich die Schulen Islands, werde aber auch von Firmen gebucht. Letztes Jahr waren es 55 Auftritte. „Be in love with your life!“ (Liebe dein Leben) heißt mein Motto. Zwischendurch habe ich viele Jahre für die Gesundheitsbehörde gearbeitet, vorrangig im Kampf gegen das Rauchen. 2013, das muss ich Ihnen erzählen, weil ich sehr stolz darauf bin, wurde ich zum „Künstler des Jahres“ der Stadt Reykjavik ernannt. Viele meiner Bücher biete ich zum freien Download an, das war sicherlich ausschlaggebend. Tja, dann natürlich die Arbeit für den Verband. Und im vergangenen Jahr wurde ich gefragt, ob ich nicht für das Amt des Präsidenten von Island kandidieren wollen würde.

Ihre Antwort?
Das wollte ich sogar sehr gerne! Ich glaube, ich wäre ein sehr guter Präsident geworden. In Island ist das kein politischer, sondern ein repräsentativer Posten. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich lebe ein sehr gesundes Leben und liebe es, das auch meinen Mitmenschen schmackhaft zu machen.

Und?
Am 25. Juni war die Wahl. Aber kurz vor dem Turnierstart habe ich meine Kandidatur zurückgezogen.

Warum?
Weil ich lieber helfen wollte, dass Island ein tolles Turnier spielt, statt Präsident zu werden. Das war mir einfach wichtiger.

Immerhin: Das ist Ihnen gelungen.
Mir alleine ganz bestimmt nicht. Wir stehen im Viertelfinale, weil wir zwar nicht die besten Einzelspieler haben, aber das beste Team. Beziehungsweise: ein sehr gutes Team. Und damit meine ich alle, vom Torwart bis zur Reinigungskraft. Bei uns herrscht eine so fantastische positive Stimmung – daran einen kleinen Anteil zu haben, ist großartig.

Beschreiben Sie doch mal diesen besonderen Teamgeist.
Unser Erfolg ist auf wichtigen Grundpfeilern gebaut. Die wichtigsten heißen Respekt und Disziplin. Respekt braucht Disziplin genauso wie sportlicher Erfolg. Das fängt damit an, dass wir unsere Kabinen immer sauber hinterlassen. Die Putzkräfte und die Offiziellen sind jedes Mal völlig verwirrt, wenn sie in die Kabinen kommen. Wir denken: Wenn wir als Gäste eingeladen sind, dann hinterlassen wir das auch so wie anständige Gäste. Ein anderes Beispiel: Man wird keinen isländischen Nationalspieler sehen, der sein Handtuch im Hotelzimmer auf den Boden schmeißt. Ich will damit sagen: Wir versuchen, auf alles zu achten. Jeden zu respektieren. Und uns von unserer besten Seite zu zeigen. Jedes Teammitglied tut das. Ich bin fest davon überzeugt, dass das der Hauptgrund für unser gutes Karma ist.

Jetzt werden Sie fast zu spirituell für einen Fußballer.
Oh, ich bin fest von der Theorie des Karmas überzeugt. Und das Schöne ist: die Spieler sind es auch. Das Gemeinschaftsgefühl ist bei uns fast greifbar und wird noch dadurch verstärkt, dass sich viele Nationalspieler schon seit den Junioren-Auswahlen kennen und gute Freunde sind. Diese Mannschaft denkt tatsächlich wie eine Mannschaft: Sie tut alles für den Erfolg des Teams und stellt die eigenen individuellen Wünsche dafür in den Hintergrund.

Was ist die größte Gefahr für eine Fußball-Mannschaft bei einem solchen Turnier?
Angst.

Wie bekämpfen Sie die?
Indem man alles dafür tut, sein Leben physisch und psychisch gesund zu leben. Das Leben zu genießen, sich am Leben zu erfreuen und gleichzeitig dafür sorgen, dass es auch den Mitmenschen so geht. Das ist Teil meiner Motivationsreden – und essentieller Bestandteil dieser Nationalmannschaft. Noch zwei Beispiele: Weil sie vom Ausstatter mit bis zu zwölf Paar Schuhen ausgestattet wurden, aber natürlich nicht so viel brauchen, geben mir die Spieler die Schuhe und ich lasse sie unter isländischen Schulkindern verteilen, deren Familien nur wenig Geld zur Verfügung haben. Und viele der Spieler spenden Geld an ärmere Familien oder Krebspatienten – ohne, dass die Öffentlichkeit davon wüsste. Wer so durchs Leben geht, der braucht auch keine Angst haben.

Nicht mal vor Frankreich?
Wer sich so gut gegen England behauptet, der geht mit Respekt, aber ohne Furcht in das Spiel. Außerdem: Wie soll man verlieren, wenn man schon mehr erreicht hat, als man sich vorgenommen hat? Wir stehen als Turnierneuling im Viertelfinale, die Spieler sind alle Helden. Helden brauchen keine Angst zu haben.

Wie geht die Auswahl mit der gigantischen öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit um, die sicherlich noch kein Spieler je zuvor in diesem Aufmaß erlebt hat?
Ich glaube, wir befinden uns im Auge des Orkans. Um uns herum drehen alle durch, aber die Mannschaft und der Trainer- und Betreuerstab sind sehr entspannt. Nehmen Sie den heutigen Tag. Die Spieler waren auf dem Golfplatz, schwimmen oder haben sich massieren lassen. Die Atmosphäre ist sehr relaxt.

Haben Sie keine Angst, dass die Akteure ob all des plötzlichen Ruhmes abheben?
Nein. Dafür sorgt schon der Trainerstab. Mehr auf dem Boden bleiben, als es diese Jungs tun, ist nicht möglich (lacht). Das würde auch nicht zur isländischen Mentalität passen. Zumal sich der Bekanntheitsgrad auch weiterhin in Grenzen hält. Unsere Spieler dürfen tun und lassen, was sie wollen, aber wenn sie sich außerhalb des Quartiers bewegen, dann in zivil, also nicht in Trikot oder Trainingsjacke. Bis auf wenige Journalisten erkennt sie dann niemand (lacht). Mir ist es vorhin ähnlich ergangen, allerdings andersrum. Ich war mit einem Kollegen in der Stadt zum Shoppen, wir trugen unseren offiziellen Ausgehdress. Wirklich jeder Isländer hat uns begrüßt und auf die Schulter geschlagen, um Glück zu wünschen. Aber ohne den Anzug hätte uns sicherlich niemand erkannt.

Herr Thrainsson, die Geschichte „Island und die EM“ klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Stellt sich am Ende noch heraus, dass sich ein erfolgreicher Kinderbuchautor das Ganze ausgedacht hat?
(lacht) Unmöglich. Diese Geschichte passiert wirklich. Und mal im Ernst: Wer hätte so viel Fantasie gehabt, sie sich vor dem Turnier auszudenken?

Thorgrimur Thrainsson, 57, arbeitet auch als Motivator. Sein Motto: Respekt und Disziplin

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