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Reißerisch. Diskus-Olympiasieger Christoph Harting hat kein Problem damit, große sportliche Ziele auszurufen – und hart für sie zu arbeiten.

© Thilo Rückeis

Istaf Indoor in Berlin: Christoph Harting: Scheibe für Scheibe zum Weltrekord

Christoph Harting trainiert nicht mehr mit seinem Bruder Robert und hat seinen Trainer nun endlich für sich allein. Heute ist der Diskus-Olympiasieger in Berlin im Einsatz.

Zwei Kilogramm wiegt ein Diskus. Das ist nicht viel, erst recht nicht für einen Hünen wie Christoph Harting. Aber wer Großes vorhat mit dem kleinen, leichten Fluggerät, muss sich mit schwereren Gewichten beschäftigen. Also schnauft Harting nach einem kurzen Blick in sein schwarzes Trainingstagebüchlein kurz durch die Nase, boxt mit den Knöcheln seiner Faust auf den Tisch des Kraftraums im Bundesleistungszentrum Kienbaum und fängt an, Gewichtscheiben auf die Langhantelstange zu laden.

Am heutigen Freitag steigt der Diskus-Olympiasieger beim Istaf Indoor in der Arena am Ostbahnhof erstmals seit seinem Triumph von Rio de Janeiro wieder in einen Ring. Im Sommer will er bei der WM in London abermals die Weltelite besiegen. Und in naher Zukunft will er den uralten Weltrekord brechen und den Diskus auf eine Bestmarke schleudern, die nie wieder angetastet wird.

Deswegen steht er an diesem grauen Wintertag in Kienbaum im Kraftraum und tritt an die Hantelstange. Er reißt die Gewichte in die Höhe, stemmt sie nach oben, sein Gesicht verfärbt sich rot. Dann lässt er die Hantel mit so viel Schwung wieder auf den Gummiboden sausen, dass sie scheppernd wieder einen Meter in die Höhe federt. Krach, Krach, Krach, Krach, Krach, nach dem fünften Sprung bleibt die Hantelstange endlich liegen.

„Gut“, sagt Trainer Torsten Lönnfors leise, seine Stimme ist kaum hörbar. Auch andere Sportler arbeiten an den Gewichten, das Zentrum des Raums und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hat aber Christoph Harting, der Olympiasieger. Er bestimmt auch die Musik, die den ganzen Raum beschallt, die Lautsprecherboxen sind mit seinem Smartphone verbunden.

Seit Jahresbeginn betreut Lönnfors Christoph Harting alleine, zuvor war er für eine Diskus-Trainingsgruppe verantwortlich, zu der auch Christophs Bruder Robert und dessen Frau Julia gehörten. Aufgrund der Rivalität und der persönlichen Animositäten der Brüder ist die Gruppe auseinander gegangen, Lönnfors und der jüngere Harting konzentrieren sich auf ihre Zusammenarbeit im Team.

„So, komm jetzt“, sagt Lönnfors, als Harting wieder an die Stange tritt. „Atme, nimm dir Zeit.“

Der 42-Jährige – früher selbst erfolgreicher Diskuswerfer, fast genauso groß wie der 2,07 Meter lange Harting, aber schmaler – sieht sich als „Lenker und Leiter“ für seinen Sportler. Dass er jetzt nur noch für einen Athleten zuständig ist, sieht er als Chance. „Man kann sich noch mehr Gedanken machen“, sagt Lönnfors. „Die Zeit nutzen, um tiefer einzutauchen in den einen Athleten. Das versuchen wir jetzt.“ Auf der Pressekonferenz am Tag vor dem Istaf Indoor berichtet Christoph Harting, er arbeite nun „viel direkter, viel intensiver“ mit seinem Trainer zusammen.

Dabei scheint Lönnfors behutsam vorzugehen. Während Harting in Kienbaum wieder und wieder die Hantelstange in die Höhe wuchtet, schlendert sein Coach mit auf dem Rücken verschränkten Armen umher. Ab und zu macht er selbst ein paar Sit-ups oder eine Rückenübung, lässt einen Scherz fallen. „Ablenkungs-Sabbeln“ nennt Lönnfors das. Er hat auch kein Problem damit, während des Trainings mit Harting einen Mini-Football durch die Gegend zu werfen. Er verzieht selbst dann keine Miene, als Harting zwischen zwei Hantel-Serien auf seinem Smartphone herumtippt, um die Musik zu ändern. Und dann zum Beat von Deutschrapper Cro mit den Fingern schnippst und ein paar Tanzschritte andeutet.

„Ich lebe nicht in einer Sportblase, ich versuche, am realen Leben teilzunehmen“

„Christoph ist ein Typ, der nicht immer hundertprozentig denken kann: Training, Training, Training“, sagt Lönnfors. „Er braucht hier und da Abwechslung.“

Auch diese Eigenschaft war wohl ein Grund, dass die Trainingsgruppe der beiden Harting-Brüder zerbrochen ist. Der ältere Bruder – dreifacher Weltmeister, Olympiasieger 2012, dreifacher Sportler des Jahres – identifiziert sich komplett mit seinem Sport, seine Frau Julia tickt laut Lönnfors ähnlich. „Es war natürlich polarisierend, dass Christoph eine völlig andere Sichtweise auf Sport und Training hat als der Rest der Gruppe“, sagt der Trainer.

„Da beziehe ich mich durchaus mit ein.“ Er könne aber nicht vorgeben „wie ein Mensch zu sein hat. Ich muss mit der Persönlichkeit arbeiten, die da steht.“ Für Christoph Harting sei der Sport nun einmal „nicht das Leben, sondern der Job, den er jetzt zu machen hat“.

Harting, der im Herbst ein Psychologiestudium aufgenommen hat, sagt es so: „Ich lebe nicht in einer Sportblase, ich versuche, am realen Leben teilzunehmen.“

Diese unterschiedlichen Einstellungen und die daraus entstehenden Konfrontationen hätten zu „ständiger Spannung, ständige Konflikten geführt“, sagt Lönnfors. „Die Schwierigkeiten in der Gruppe haben auch mental auf die Sportler eingewirkt. Natürlich ist das ein Leistungshemmnis.“ Ganz praktisch bedeutete der Zwist, dass die Gruppe bei vergangenen Trainingslagern in Kienbaum getrennt arbeitete. „Weil hier in der rechten Hälfte des Kraftraums nur drei Heberbühnen sind, war ein Athlet immer links – das war meist Christoph“, sagt Lönnfors. „Die Hintergründe kann man sich vorstellen.“

Auf Dauer war eine Trennung wohl nicht zu vermeiden, auch wenn Torsten Lönnfors das bedauert. „Ich stand in der Mitte und konnte immer nur fifty-fifty geben“, sagt er, das sei eine schwierige Situation als Trainer gewesen. „Am Ende gab es die Entscheidung: Wer sich in der Situation nicht wohlfühlt, nimmt sich raus. Wer nicht zufrieden ist, sucht sich eine bessere Lösung.“ Robert Harting und Julia Harting haben diese Lösung bei ihrem neuen Trainer Marko Badura gefunden. Beim Istaf Indoor tritt der ältere Bruder nach einer Knie-Operation nicht an, das Berliner Publikum muss sich womöglich bis zur Europameisterschaft 2018 im Olympiastadion bis zum Showdown gedulden. Nach der Heim-EM will Robert Harting seine Karriere beenden, Christoph Harting hingegen hat noch viel vor.

Ganz konkret soll sein Diskus irgendwann einmal weiter als 74,08 Meter fliegen, bei dieser Weite steht seit 1986 der Weltrekord von Jürgen Schult. Christoph Harting hat sich sogar völlig utopisch scheinende 80 Meter zum Ziel gesetzt – seine persönliche Bestleistung liegt seit dem Olympiafinale von Rio bei 68,37 Meter. „Wir wissen ja alle, dass Christoph glaubt, er sei besser als alle anderen“, sagt Torsten Lönnfors und lächelt.

Um den Weltrekord angreifen zu können, muss Harting aber noch stärker und schneller werden, auch an seiner Technik muss er arbeiten. „Die Abwurfgeschwindigkeit ist eigentlich das einzige, worum wir uns kümmern“, sagt Lönnfors. Zurzeit verlässt der Diskus Hartings Hand mit 25,0 oder 25,2 km/h, das soll sich auf 26,5 km/h erhöhen. „Wie das funktioniert, müssen wir gucken“, sagt Lönnfors.

Zu Beginn der Saison hat er an der Explosivität seines Sportlers gearbeitet. „Wir haben verschiedene Sachen geändert, neue Reize gesetzt, was ausprobiert“, sagt Lönnfors. „Es scheint bisher nicht geschadet zu haben.“ Jetzt steht der Aufbau von Maximalkraft im Vordergrund. Am Ende der Einheit in Kienbaum hat Harting sich auf 115 Kilo im Reißen gesteigert und auf 155 Kilo im Bankdrücken. Lönnfors glaubt, dass sich diese Werte auf 140 Kilo und 200 Kilo erhöhen müssen, um den Weltrekord anzugreifen. „Und technisch ist Christoph vielleicht bei 85 Prozent seiner Möglichkeiten“, sagt Lönnfors. „Der Sprungwurf ist noch lange nicht auf dem Niveau, um stabil weit zu werfen.“

Kommt alles zusammen, hält es der Trainer für realistisch, dass Christoph Harting zuverlässig deutlich über 70 Meter werfen kann. „Wenn uns das gelingt – und dann ein toller Wettkampf kommt, schönes Wetter, ein super Publikum, toller Wind und Christoph sich fühlt super ... “, sagt Lönnfors und fügt hinzu: „Der Weltrekord ist schlagbar. Es ist nichts Utopisches. Es braucht aber Glück, dass man diesen einen Wurf erwischt.“ In den nächsten zwei, drei Jahren können man einiges aufbauen, ein Leistungssprung von drei, vier Metern sei gar nicht so abwegig, „und dann kommen schon die äußeren Bedingungen dazu – und dann schauen wir mal, wie weit es geht“.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg für Christoph Harting. Erst einmal arbeitet er im Kraftraum weiter, nach je fünf Versuchen an der Hantelstange erhöht er das Gewicht um fünf Kilo, Scheibe für Scheibe. Ein Versuch misslingt, die Hantel kracht hinter seinem Rücken zu Boden. „Ich bin noch nicht so weit vom Kopf her“, sagt er leise, halb an Lönnfors gewandt, halb zu sich selbst. „Weiß gar nicht, warum ich zweifle.“ Nach einem anderen Versuch, den er nicht in die Höhe bekommt, flucht er leise vor sich hin. Es sei ganz normal, dass ein Sportler unzufrieden sei, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniere, sagt Lönnfors. In drei Wochen aber werde Harting über 115 Kilo im Reißen lachen.

„Man kann sich ärgern“, sagt Torsten Lönnfors über den missglückten letzten Versuch an der Hantel. Und was er hinzufügt, könnte irgendwann auch für den Diskus-Weltrekord gelten. „Die Zukunft wird zeigen: Es ist nicht schwer“, sagt Lönnfors. „Es war nur in diesem Moment nicht lösbar.“

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