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Sport: Italien - Niederlande: Hollands Stärke wächst hinter Stacheldraht

Frank Rijkaard kann doch gelöst lächeln. Gerade hat der Trainer der holländischen Nationalmannschaft drei Minuten lang in Italienisch referiert, was es aus seiner Sicht vor dem heutigen Halbfinalspiel seines Teams gegen Italien in Rotterdam zu sagen gibt.

Frank Rijkaard kann doch gelöst lächeln. Gerade hat der Trainer der holländischen Nationalmannschaft drei Minuten lang in Italienisch referiert, was es aus seiner Sicht vor dem heutigen Halbfinalspiel seines Teams gegen Italien in Rotterdam zu sagen gibt. Und er freut sich richtig, dass er dieses Statement sprachlich unfallfrei rübergebracht hat. Schließlich ist es schon ganz schön lange her, dass der 37-Jährige sein Geld als Spieler beim AC Mailand verdient hat. Doch gleich wirkt Rijkaard wieder ernst, als wenn ihn die Favoritenbürde in jeder Sekunde auf die Seele drücken würde. Sehr oft hat er in den letzten Minuten sagen müssen, dass es viel zu früh sei, um ans Finale zu denken, dass man am Donnerstag erst einmal die starken Italiener schlagen müsse, und dass seine Spieler trotz der Euphorie, die das ganze Land erfasst hat, weiter mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben müssten. Anerkennendes Nicken und Gemurmel der italienischen Journalisten. Grazie Franko für alles. Die Männer aus Rom, Turin und Mailand haben genug gehört, mit dem sie am nächsten Tag ihre Leser glücklich machen können. Für sie hat sich der lange Weg ins kleine Hoenderloo, 80 Kilometer westlich von Amsterdam, vollauf gelohnt.

300 Journalisten und zwölf Kamerateams sind für eineinhalb Stunden zum Pressetermin ins Quartier der "Elftal", wie die Nationalmannschaft genannt wird, eingefallen. Mehrere Sicherheitschecks haben die Besucher über sich ergehen lassen müssen. Das "Hotel Golden Tulip Residence Victoria" ist wie ein Hochsicherheitstrakt abgeriegelt. Die hohen Zäune drumherum bekamen als "Sahnehäubchen" noch dichten Stacheldraht aufgesetzt. Bullige Männer ohne Hals, deren wuchtige Schädel direkt auf den breiten Schultern aufsetzen, patrouillieren. Rijkaard hat konsequent dafür gesorgt, dass sich seine Mannschaft fernab von allem in Ruhe auf das vorbereiten kann, was im eigenen Land erst erhofft, dann gewünscht und jetzt schon fast gefordert wird: den EM-Sieg.

Kann man hinter hohen Zäunen, Mauern und Stacheldraht ohne Einflüsse von außen bleiben? Marc Overmars behauptet dies jedenfalls: "Wir sind hier, trainieren - und kriegen ansonsten fast gar nichts mit." Was sicherlich ein wenig geschwindelt ist. Denn die Spieler hatten wohl mitbekommen, wie beispielsweise Johan Cruyff, die Lichtgestalt des holländischen Fußballs, bis zum 6:1-Erfolg im Viertelfinale gegen Jugoslawien massive Kritik ("Einstellung stimmt nicht", "Mangel an Phantasie") geübt hatte. Die Profis hat das geärgert, doch inzwischen ist der Fußball-Weise und Ober-Ober-Ober-Kritiker umgeschwenkt: "Ich habe dieses 6:1 genossen."

Kann man hinter hohen Zäunen, Mauern und Stacheldraht ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln? Das Zusammenleben in der Wagenburg hat offenbar zusammengeschweißt. "Wir haben eine große Freundschaft im Team, das ist wohl das Wichtigste", sagt Patrick Kluivert. Stürmerkollege Overmars ergänzt: "Bei uns herrscht ein sehr gutes Klima." Und er liefert auch gleich einen Grund dafür: "Jeder steckt ein wenig zurück. Wir sind alle älter und erfahrener geworden." Viele wüssten zudem, dass es für sie "nicht mehr so viele große Turniere geben wird". Die EM 2000 als letzte große Chance.

Rijkaard hat das Kunststück fertig gebracht, die Ansammlung von Stars, auch allen ethnischen Unterschieden zum Trotz, zu einer Gemeinschaft zu formen. Auch mit Spielern surinamesischer Abstammung wie Kluivert, Clarence Seedorf oder Edgar Davids gibt es keinen Ärger. Bei der EM 1996 hatte noch ein angeblicher Rassenkonflikt im Oranje-Team Holland in Atem gehalten. Davids hatte dem damaligen Bondscoach Gus Hiddink empfohlen, endlich "seinen Kopf aus dem Arsch der weißen Spieler zu nehmen". Bei Frank Rijkaard, dessen Vorfahren selbst aus Surinam stammen, sind alle gleich.

Kluivert hat ein Erfolgsrezept parat: "Jeder arbeitet für den anderen." Und einige haben gelernt, dass Verzicht nicht Schwäche bedeutet, wenn er dem gemeinsamen Ganzen, dem Erfolg dient. Beispielsweise hat Overmars klaglos akzeptiert, statt auf seiner stärkeren linken, jetzt auf der rechten Seite angreifen zu sollen. Weil sich der andere mögliche Kandidat, Linksaußen Boudewijn Zenden, rechts noch weniger wohlfühlt als er. "Natürlich bin ich links stärker, aber ich akzeptiere die Entscheidung, wenn es für das Team so besser ist", sagt Overmars.

So spielt Stürmer Dennis Bergkamp jetzt nicht mehr ganz vorne, sondern bedient - aus dem Mittelfeld kommend - Kluivert. Bergkamp: "Patrick spielt vor dem Tor viel effektiver als ich, da stelle ich mich eben mehr in seinen Dienst." An jedem der sechs Tore gegen Jugoslawien war der 31-jährige Bergkamp beteiligt. "Er war der beste Mann auf dem Platz", urteilte Cruyff. Zwei Tage vor dem Viertelfinale hatte Rijkaard Bergkamp auf seine Aufgabe eingeschworen. "Das war eines der schönsten Gespräche, das ich je mit einem Spieler geführt habe. Da war sehr viel Gefühl drin", berichtet der Trainer. Gefühl, aus dem Stärke wuchs.

Sebastian Arlt

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