zum Hauptinhalt

Sport: Jeder ist ein Sieger

Die Special Olympics der geistig Behinderten in Hamburg bieten viel Platz für Menschlichkeit

Auf den letzten Metern wird Rainer Grohe aus dem bayerischen Steinhöring zum großen Helden. Die Zuschauer in der Alsterschwimmhalle in Hamburg springen auf, sie jubeln ihm zu, wie er sich durchs Wasser kämpft – mit Schwimmflügeln. Als er im Ziel ist nach 50 Metern Rückenschwimmen, tobt die Halle. Zur Siegehrung wird er im Rollstuhl geschoben. Grohe ist geistig behindert, und sein Körper wird von spastischen Krämpfen durchzuckt. In seinem Rennen ist er mit großem Rückstand Letzter geworden. Eine Medaille aus Kupfer bekommt er trotzdem.

Rainer Grohe ist nur einer von vielen Siegern bei den National Games der Special Olympics, den nationalen Spielen der geistig Behinderten in Hamburg. Denn dass jeder Teilnehmer ein Sieger ist, gehört zum Selbstverständnis der Special Olympics. In Hamburg gibt es also 3230 Sieger zwischen zwölf und sechzig Jahren. Die Teilnehmerzahl steigt immer weiter, seitdem 1998 in Stuttgart zum ersten Mal die nationalen Spiele ausgetragen wurden. Sogar Golf ist diesmal im Programm, Tennis und Segeln. Aber es gibt auch ein wettkampffreies Angebot für alle, die nicht verstehen, dass beim Fußball der Ball ins Tor muss oder dass sie bei der Pendelstaffel nur auf ihrer Bahn laufen dürfen.

Die Special Olympics sind eine kleine, beschauliche Welt mit viel Platz für menschliche Wärme. Anders als bei den Paralympics der Körperbehinderten zählt hier schon das Mitmachen, und vielleicht auch deshalb hat das Internationale Olympische Komitee erlaubt, das sonst streng geschützte Wort „Olympics“ zu verwenden. In Amerika sind die Special Olympics ein riesiges Ereignis, es findet Unterstützung von Medien, Wirtschaft und Prominenten wie Jon Bon Jovi oder Arnold Schwarzenegger. Immerhin hat kürzlich Johannes B. Kerner Agnes Wessalowski in seine Sendung eingeladen. Die 23 Jahre alte Schwimmerin mit Down-Syndrom hat bei den Special Olympics in Hamburg den Eid gesprochen: „Lasst mich gewinnen, doch wenn ich nicht gewinnen kann, lasst mich mutig mein Bestes geben!“

Die Special Olympics leben von ihrer Emotionalität, von vielen kleinen rührenden Szenen. In der Alsterschwimmhalle läuft ein Mann mit Down-Syndrom vor der Siegerehrung an jedem Helfer vorbei und fällt ihnen um den Hals. „Ich bin Siebter geworden“, sagt er strahlend. Bei der Siegerehrung stehen alle acht Teilnehmer des jeweiligen Durchgangs nebeneinander auf dem Podest. Es gibt eine Reihenfolge, aber keine Stufen. Kerstin Lehmann hängt jedem eine Medaille um. Sie ist im Hamburger Schwimmverband für Breiten- und Gesundheitssport zuständig. „Ich bin schwer begeistert“, sagt sie. „Die reden nicht viel, aber sie sagen sehr viel mit ihren Gesten.“ Beeindruckt sind auch die Hamburger Schüler, die sich seit Montag bis zum Abschluss am Freitagabend als Helfer um die Behinderten kümmern. Kerstin Lehmann hat den Eindruck, dass sie sich darum reißen, wer die Sportler zur Siegerehrung begleiten darf: „Sie wollen in ihrer Nähe sein.“

Im Hamburger Stadtpark berichtet die Präsidentin des Organisationskomitees, Brigitte Lehnert, von den großen Fortschritten der Special Olympics. „Diese Veranstaltung ist schon viel professioneller als die davor, und wir sind mitten in der Stadt. Das schafft Öffentlichkeit“, sagt sie. Von den 750 000 Menschen in Deutschland mit geistiger Behinderung sind ihrer Einschätzung nach 400 000 in der Lage, Sport zu machen. Bisher seien es 30 000, die nach den Regeln der Special Olympics trainieren. Die meisten Teilnehmer kommen aus Werkstätten für Behinderte, Vereinen oder Schulen.

„Das Wichtigste ist die Akzeptanz“, sagt Lehnert. „Sie werden hier bejubelt und beklatscht, diese Wahrnehmung haben sie sonst nicht. Viele tragen ihre Medaille wochenlang.“ Auch für ihr Umfeld sei dies wichtig. „Die Eltern merken auf einmal: Mein Kind kann ja doch etwas.“

Leistung zählt, aber genauso die Gemeinschaft und der Ausgleich. Projektleiter Dieter Schöneberg zum Beispiel nimmt immer wieder andere Mitarbeiter aus der Tischtennisgruppe seiner Werkstätte für Behinderte in Eschwege mit zu den Special Olympics, nicht immer nur die besten. Diesmal ist unter anderem der 46 Jahre alte Ralf Bethge dabei. „Ist doch mal ’ne Abwechslung“, sagt er. „Ich habe schon eine Medaille zu Hause an der Wand.“ Damit das Leistungsgefälle nicht zu groß ist, werden beim Tischtennis zunächst Klassifizierungen vorgenommen und erst dann die Plätze ausgespielt. Die Trainer der Schwimmer schicken vorher die Zeiten ihrer Athleten ein, dann werden homogene Gruppen zusammengestellt, unabhängig vom Alter und Grad der Behinderung.

Der Höhepunkt ist die Siegerehrung. Als Kerstin Lehmann in der Schwimmhalle allen eine Medaille umgehängt hat, hat einer immer noch nicht genug. Er springt vom Podest und drückt Kerstin Lehmann noch einmal fest an sich.

Zur Startseite