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Jerome Boateng: Schluss mit dem Ghetto-Image

Jerome Boateng steht gegen Russland zum ersten Mal im Kader der Nationalelf – vielleicht spielt er sogar.

Jerome Boateng ist mit seinen 21 Jahren in einem Alter, in dem er als Fußballer fortlaufend mit neuen Situationen konfrontiert wird. Das ist der Lauf der Dinge; was er aber vor vier Wochen erlebt hat, wird wohl eine einmalige Erfahrung bleiben. Boateng hatte mit der U-21-Nationalmannschaft in Aachen gegen San Marino gespielt, er war schon auf dem Weg zum Mannschaftsbus, als er gestellt wurde. Ob man bitte ein Foto mit ihm machen könne. Boateng blieb stehen, die Handykameras richteten sich auf ihn, doch es waren keine gewöhnlichen Autogrammjäger, die sich mit ihm fotografieren lassen wollten – es waren die Spieler von San Marino.

„So etwas habe ich auch noch nicht erlebt“, flüsterte Boateng. Gemessen an seiner stattlichen Erscheinung, an seiner sportlichen Entwicklung, die ihn jetzt in den Kreis der Nationalmannschaft geführt hat, und gemessen vor allem an seinem Ruf kommt der gebürtige Berliner fast scheu daher. Er spricht leise und wirkt unsicher, wenn Journalisten etwas von ihm wollen. Dabei hat die Öffentlichkeit ein ganz anderes Bild von ihm. Knapp drei Jahre ist es her, dass Boateng, gerade 18, Arne Friedrich, dem Kapitän von Hertha BSC, auf dem Weg vom Trainingsplatz in derber Diktion Prügel androhte. Dass die Journalisten in Hörweite standen, hat Boateng nicht weiter gestört. Wahrscheinlich passte es ihm sogar ganz gut in den Kram: Solche Auftritte förderten nur sein Image vom furchtlosen Krieger.

Heute ist das anders. „Mich hat dieses Ghetto-Image genervt“, sagt Boateng. „Das bin ich nicht.“ In Interviews weist er jetzt nachdrücklich darauf hin, dass er eben nicht wie sein Bruder Kevin im wilden Wedding aufgewachsen ist, sondern, wohlbehütet, im bürgerlichen Charlottenburg. Von der Gangsta-Rap-Fraktion, die bei Hertha eine Zeit lang den Ton vorgegeben hat, hat er sich erfolgreich emanzipiert. Jerome Boateng ist nicht nur der Jüngste der vermeintlichen Ghetto-Kids, er ist inzwischen auch der Einzige mit glänzenden Karriereaussichten. Sein Bruder Kevin-Prince Boateng – in England verschollen. Patrick Ebert – im Clinch mit der Justiz. Ashkan Dejagah – bei Wolfsburg allenfalls noch Ergänzungsspieler. Und Christian Müller, der krasse Chris – in Koblenz gestrandet. Tendenz: weiter fallend.

Jerome Boateng entfernt sich auch sportlich immer weiter von seinen alten Kumpels. „Seine Entwicklung wird nicht aufzuhalten sein“, sagt Bundestrainer Joachim Löw. Für das entscheidende WM-Qualifikationsspiel gegen Russland hat er den Verteidiger vom Hamburger SV zum ersten Mal für die Nationalmannschaft nominiert. Dass Boateng in Moskau zum Einsatz kommt, vielleicht sogar von Anfang an, ist zumindest nicht ausgeschlossen. „Jeder Spieler, der dabei ist, ist eine Option für die Startelf“, sagt Löws Assistent Hans-Dieter Flick. „Er macht es sehr gut – als ob er schon öfter dabei gewesen wäre.“

Boateng könnte gegen die Russen als rechter Außenverteidiger auflaufen, weil Philipp Lahm wohl wieder auf die linke Seite rückt. Sein ärgster Konkurrent um den Platz in der Viererkette ist ausgerechnet sein ehemaliger Kollege Arne Friedrich. Andreas Beck besitzt allenfalls Außenseiterchancen. Der Hoffenheimer begreift die Aufgabe als Außenverteidiger in erster Linie offensiv, alle Indizien aber deuten darauf hin, dass Löw gegen die Russen eine kompakte defensive Organisation anstrebt.

Die Frage Friedrich oder Boateng ist auch eine Grundsatzentscheidung: Gegenwart oder Moderne? Sicherheit oder Wagemut? Löw weiß, dass er mit Arne Friedrich wenig falsch machen kann: Bei ihm bekommt er eine defensiv solide Interpretation der Rolle, so wie bei der WM 2006, als Friedrich im kniffligen Viertelfinale gegen Argentinien zwar wie immer wenig nach vorne initiierte, Carlos Tevez dafür aber komplett aus dem Spiel nahm. Mehr wurde von ihm gar nicht verlangt. Weniger aber auch nicht. Ähnliche Qualitäten sind auch gegen die offensivstarken Russen gefragt.

Wäre es nicht gerade deshalb ein unkalkulierbares Risiko, den jungen Boateng in einem Spiel debütieren zu lassen, in dem es um alles oder nichts geht? So mutig ist Joachim Löw eigentlich nicht. Andererseits sagt er: „Wie Boateng in der Bundesliga verteidigt, das hat mich beeindruckt.“ Vor zwei Wochen zum Beispiel, gegen Bayern München und die beiden gefährlichsten Außenspieler der Liga. In der ersten Halbzeit spielte Jerome Boateng links gegen Arjen Robben, in der zweiten rechts gegen Franck Ribéry. Beide sahen gegen ihn kein Land. Joachim Löw ist das nicht entgangen. Er saß in Hamburg auf der Tribüne.

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