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Wir waren ein Team. Von den Spielern, die im Juli das WM-Finale gewonnen haben, werden Bundestrainer Löw in Polen einige fehlen. Allen voran Philipp Lahm (mit Pokal).

© picture alliance / dpa

Joachim Löw bastelt sich eine neue Mannschaft: Weltmeister ohne Weltmeister

Vor dem Länderspiel in Polen wird deutlich, dass Bundestrainer Joachim Löw eine neue Mannschaft finden muss. Neben den Verletzungen einiger Stammspieler gilt es auch, die Rücktritte dreier Weltmeister zu kompensieren.

Gut, dass Thomas Müller da ist, und fit und frech und sowieso. Wenigstens er, möchte man meinen, nachdem die Unpässlichkeit vieler Weltmeister langsam wie ein kleiner Fluch über der Nationalmannschaft zu schweben droht. Müller aber bringt die Reise nach Warschau, wo am Samstag das wohl schwerste Spiel der EM-Qualifikation für die Mannschaft von Joachim Löw stattfinden wird, „gefühlsmäßig nicht ins Wanken“, wie er sagt. Natürlich habe er mit seinem Münchner Mannschaftskollegen, Polens Wunderstürmer Robert Lewandowski, gefrotzelt. Die beiden hätten sich auf ein Unentschieden geeinigt, sagt Müller, „auf ein Unentschieden mit Sieg für uns“.

Mit seiner erweckenden und ansteckenden Art ist Thomas Müller gefragter denn je. Es läuft ja im Augenblick wenig rund beim Weltmeister. Viele WM-Stammspieler fallen langfristig aus, wie Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Benedikt Höwedes und nun auch Mesut Özil. Andere haben mit ihrer Form zu tun, wie Mats Hummels oder Lukas Podolski.

„Es ist eine andere Mannschaft“, sagte Manager Oliver Bierhoff, als er auf dem Trainingsplatz nur 14 fitte Feldspieler sah. „Wir müssen viele Spieler einbauen, viele Spieler müssen sich neu reinfinden.“ Wenigstens haben sich inzwischen Julian Draxler und André Schürrle wieder einsatzbereit gemeldet. Neue Spieler wie Sebastian Rudy oder Debütant Karim Bellarabi ringen erst einmal um Anschluss.

Joachim Löw stehen gerade mal die Hälfte der Spieler aus dem WM-Finale zur Verfügung

Tatsächlich ist es so, dass von den 14 Spielern, die vor drei Monaten im WM-Finale gespielt haben, gerade mal die Hälfte für die Qualifikationsspiele gegen Polen und dann am Dienstag gegen Irland zur Verfügung steht. Insofern muss Bundestrainer Joachim Löw mehr improvisieren, als ihm lieb ist. Verletzungen und Formkrisen sind das eine, viel mehr zu schaffen macht Joachim Löw ein Umstand, der erst allmählich seine wahre Wirkung entfaltet: die Rücktritte aus der Nationalelf von Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker so rasch nach dem WM-Finale.

Im nachlaufenden Triumph-Trubel sind die Rücktritte fast ein bisschen untergegangen. Große Güte, das gab es schon immer, dass verdiente Spieler nach großen Turnieren diesen Schritt gingen. Klose? Ein alternder Stürmer! Mertesacker? Ein Innenverteidiger, der um seinen Stammplatz würde kämpfen müssen. Lahm? Okay, Lahm, der Kapitän, tat auch schon im ersten Moment weh. Auf dem Feld sowieso, aber auch seine moderierende, auf Ausgleich und Mitnahme jedes Einzelnen gerichtete Art als Kopf der Mannschaft.

Nicht, dass Schweinsteiger, sein Nachfolger als Kapitän, das nicht auch alles könnte, vielleicht ein wenig anders. Aber der Münchner hat sich wie ein altes Ross in die Schlacht von Maracana geworfen und kommt seitdem körperlich nicht auf die Strümpfe. Schweinsteiger ist jetzt nicht bei seiner Mannschaft, und das wird ein Weilchen noch so bleiben. Vielleicht erreicht die Mannschaft auch ohne ihn 2016 das EM-Finale in Paris …

Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker fehlen der Mannschaft von Joachim Löw

Dem Bundestrainer schwant es langsam, wie sehr diese drei Spieler fehlen. Nicht so sehr auf dem Feld, sondern mental. Alle drei waren über zehn Jahre dabei, sie prägten durch ihre Charaktere, ihre Menschlichkeit und ihre Zugewandtheit das Klima. Sie hatten stets das Große und Ganze im Blick und haben dadurch das Gebilde Nationalmannschaft ein Stück weit getragen. Ja, sie haben die Mannschaft in ihrem Inneren zusammengehalten und ihr Ausrichtung und Inhalt gegeben.

Jetzt klaffen Lücken. Das wird so kein Spieler sagen, aber sie spüren es, einige deuten es hinter vorgehaltener Hand an. Jetzt müssen andere führen und tragen und lenken. Manuel Neuer beispielsweise, er wird die Mannschaft in beide Länderspiele als Kapitän aufs Feld führen. Dann aber ist er als Torwart weit weg vom Geschehen. Bierhoff nannte noch Toni Kroos und Thomas Müller. Klar, Müller. Er und Hummels sind für Lahm, Klose und Mertesacker in den Mannschaftsrat aufgerückt. „Ich sehe meine Rolle nicht anders als zuvor“, sagt Müller. Er wolle seinen Beitrag leisten, auch neben dem Platz. „Ich will schon auf die Mannschaft einwirken.“

Das aber muss wachsen. Andere, wie Hummels etwa, haben derzeit noch sehr viel mit sich selbst, mit ihrer Form, zu tun. Aufstrebende Spieler wie André Schürrle, 23, Mario Götze, 22, und Christoph Kramer, 23, fehlt es noch an Reife. Durch den Status Weltmeister werde man so ein bisschen in eine Führungsrolle reingedrängt, sagt der Gladbacher Kramer: „Ich habe keine Angst davor, aber ich habe erst sieben Länderspiele gemacht, ich kann noch gar kein Leader sein.“ Die Nationalmannschaft ist groß geworden durch ihren Teamgedanken. Sie ist ein eigener Kosmos, einer, dem ein paar Fixpunkte verloren gegangen sind. Die Mannschaft wird neue finden müssen, sie wird sich selbst neu finden müssen. Mit neuen Zielen, neuer Motivation und neuer Identität. Die WM ist endgültig vorbei.

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