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Der EM-Kader von Joachim Löw ist keine Momentaufnahme, sondern das Ergebnis monatelanger Beobachtungstätigkeit.

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Joachim Löw mit vier Überraschungen: Was der EM-Kader über den Bundestrainer aussagt

Mit Weigl, Kimmich, Brandt, Sané - aber auch Schweinsteiger und Podolski. Joachim Löw hat den vorläufigen Kader für die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich nominiert. Eine Analyse.

Podolski sollte als Maskottchen oder Gute-Laune-Animateur mit der Nationalmannschaft zur EM reisen. Aber nicht mehr als Spieler. Seinen Zenit hat er vor Jahren schon überschritten.

schreibt NutzerIn lionfood

Am vergangenen Wochenende hat Julian Weigl einen neuen Bundesligarekord aufgestellt. Im Spiel seiner Dortmunder Borussia gegen den 1. FC Köln wurden für den 20 Jahre alten defensiven Mittelfeldspieler 218 Ballkontakte gezählt. Nie zuvor, seitdem derartige Statistiken erhoben werden, hatte ein Spieler mehr. Den bisherigen Rekord des Münchners Xabi Alonso hat Weigl um zwei sogenannte Ballaktionen übertroffen.

Das ist ein beachtlicher Wert, und doch kann man davon ausgehen, dass er keine allzu große Rolle mehr für die Entscheidung von Joachim Löw gespielt hat, Weigl für die Europameisterschaft in Frankreich zu nominieren. Der Kader, den der Bundestrainer am Dienstag bekannt gegeben hat, ist keine Momentaufnahme, sondern das Ergebnis monatelanger Beobachtungstätigkeit.

„Besonders in den letzten Tagen haben wir uns sehr intensive Gedanken gemacht“, sagte der Bundestrainer bei der Vorstellung seines vorläufigen Aufgebots in der Französischen Botschaft in Berlin. Neben der fußballerischen Qualität sind auch die Soft Skills der Kandidaten in Löws Entscheidungen eingeflossen. „Es geht bei einem Turnier um mehr, als nur gut Fußball zu spielen“, sagte er. „Auch die Persönlichkeit ist wichtig.“

Herausgekommen ist ein gut austarierter und damit typischer Löw-Kader. Er spiegelt seinen Hang zum Bewährten genauso wider wie sein Faible für das Frische und Unerwartete – und verfügt auch über einen zusätzlichen Schuss Wagemut. Als Torhüter Nummer zwei und drei hinter Manuel Neuer hat der Bundestrainer Marc-André ter Stegen (FC Barcelona) und Bernd Leno (Bayer Leverkusen) nominiert. Beide haben schon in diversen Junioren-Nationalmannschaften von der U 17 bis zur U 21 miteinander konkurriert und sollen sich ähnlich freundschaftlich zugetan sein wie Hund und Katze oder Kahn und Lehmann. Aber ein bisschen Reibung, zumindest in der zweiten Reihe, kann vielleicht nicht schaden.

„Eine gute Mischung aus Erfahrung und Unbekümmertheit“ bescheinigte der Bundestrainer seinem eigenen Werk. „Insgesamt verfügt unser Kader über eine hohe fußballerische Qualität sowie über viel Flexibilität und Variabilität.“

Für Leverkusen traf Julian Brandt in sechs Spielen hintereinander

Für das Alte und Bewährte stehen Kapitän Bastian Schweinsteiger, 31, und Lukas Podolski, 30, die als einzige Spieler schon vor Löws Amtsantritt beim DFB für die Nationalmannschaft aktiv waren und wie zwölf andere Spieler schon zum Kader bei der WM 2014 gehörten. In gewisser Weise zählt auch Mario Gomez, 30, zum Establishment, obwohl er für die Weltmeisterschaft in Brasilien nicht berücksichtigt worden war. Als typischer Mittelstürmer schien er schon aus der Zeit gefallen, doch jetzt ist Gomez als Türkischer Meister mit Besiktas Istanbul und mutmaßlicher Torschützenkönig der Süperlig wieder zurück.

Unbekümmertheit sollen neben Julian Weigl auch der Leverkusener Julian Brandt, 20, und der Münchner Joshua Kimmich, 21, in die Mannschaft bringen. Alle drei haben, wie Bernd Leno, noch kein einziges Länderspiel bestritten – anders als Leroy Sané, 20, vom FC Schalke 04, der im vergangenen November in Paris immerhin schon zu einem Kurzeinsatz gekommen ist.

Löw nannte ihre Nominierung „sehr überraschend – für mich auch“. Das war natürlich nur ein Scherz und entsprach auch sonst nicht ganz der Wahrheit. Alle drei Neulinge sind schon in den vergangenen Wochen immer wieder mal als mögliche EM-Starter identifiziert worden und haben ihre Tauglichkeit für höhere Aufgaben in ihren Vereinen längst nachgewiesen. Kimmich, von Hause aus defensiver Mittelfeldspieler, habe bei den Bayern auf einem hohen Niveau gespielt und trainiert, sagte der Bundestrainer. Allerdings ist er dort wegen akuten Verteidigernotstands vor allem als Innenverteidiger eingesetzt worden. Im Mittelfeld hat sein Vereinstrainer Pep Guardiola lieber auf bewährte Kräfte wie den alternden Xabi Alonso oder Arturo Vidal gesetzt.

Julian Brandt war der wohl auffälligste Bundesligaspieler der vergangenen Wochen. „Er hat einen guten Lauf“, sagte Löw. Für Leverkusen traf der offensive Mittelfeldspieler im Saisonfinale in sechs Spielen hintereinander. Aber nicht nur wegen seiner Abschlussqualität ist er für Löw zunehmend interessanter geworden: „Er ist ein Spieler, der in engen Räumen hervorragend kombinieren kann.“ Mit seinen Fähigkeiten könnte Brandt den Wolfsburger Julian Draxler verdrängen, bei dem noch nicht absehbar ist, in welcher Form er nach seiner Verletzung am kommenden Dienstag ins Trainingslager in der Schweiz reist.

Vier Feldspieler muss Löw noch streichen

Kimmich und Weigl wären als defensive Mittelfeldspieler mögliche Vertreter für Kapitän Bastian Schweinsteiger, sollte der nicht rechtzeitig fit werden. Erst recht nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Ilkay Gündogan. Die beiden Neuen haben vor einem Jahr noch in der Zweiten Liga gespielt, Kimmich bei Rasenballsport Leipzig, Weigl für 1860 München. In Dortmund war Weigl die große Entdeckung der Saison. Zunächst nur als Perspektivspieler eingeplant, eroberte er sich gleich zu Saisonbeginn einen Stammplatz. Löw bescheinigte ihm, beim BVB eine „sehr gute Rolle“ gespielt zu haben. 50 Pflichtspiele hat Weigl in seiner Debütsaison für die Dortmunder bestritten. „Er hat eine unglaubliche Übersicht, ist sehr ball-, sehr passsicher“, sagte der Bundestrainer.

Ins Trainingslager in der Schweiz hat er es mit diesen Qualitäten schon einmal geschafft; ob sie auch für einen Platz im endgültigen EM-Kader reichen, ist eine andere Frage. Löw hat für die Vorbereitung 27 Spieler nominiert. Vier Feldspieler muss er bis zum 31. Mai noch aus seinem Aufgebot streichen. „Im Moment gibt es für uns keinen potenziellen Streichkandidaten“, sagte der Bundestrainer. „Ich habe keine Tendenz.“

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