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Feilen statt schleifen: Von seinen Spielern erwartet Bundestrainer Joachim Löw, dass sie ab sofort mehr trainieren und ihr ganzes Leben auf die WM ausrichten.

© dpa

Joachim Löw vor der WM: Nationaltrainer im Kampfmodus

Drei Monate vor der Weltmeisterschaft in Brasilien wirkt Joachim Löw entschlossener denn je. Sein Stil ist wie seine Anzüge. Modisch auf der Höhe, aber für den Massengeschmack zu eng geschnitten. Ein Porträt.

Joachim Löw trägt einen anthrazitfarbenen Anzug, eng geschnitten, schmales Revers, darunter ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Sein dunkles Haar endet kurz vor den Augenbrauen. Das ist jetzt wirklich mal eine überraschende Nachricht: Joachim Löw sieht genauso aus, wie Joachim Löw immer aussieht. Überraschend deshalb, weil Löw, der Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, doch gerade einen Imagewandel hinter sich zu haben scheint: vom lieben, netten, gemütlichen Jogi zum knallharten Herrn Löw. Und weil man ihn in dieser Woche eher im Kampfanzug erwartet hätte, mit raspelkurzem Bürstenhaarschnitt als Ausdruck seiner neuen Entschlossenheit.

Alle Infos zur WM 2014 in Brasilien finden Sie auch auf unserer Themenseite

Einmal hat Joachim Löw sein Haupthaar tatsächlich für den Erfolg geopfert. Das war im Sommer 1997, als er mit dem VfB Stuttgart am Ende seiner ersten Saison als Cheftrainer den DFB-Pokal gewonnen hatte. Kurz vor dem Finale hatte er seinen Spielern als zusätzliche Motivation versprochen, sie dürften ihm den Kopf scheren, sollten sie gewinnen. In Stuttgart, bei der Siegesfeier in der Stadt, setzte die Mannschaft den Rasierer an und verpasste ihrem Trainer unter großem Gejohle eine eher unvorteilhafte Kurzhaarfrisur. Man kann nicht sagen, dass Löw diese Aktion wirklich gutgetan hätte. Ein Jahr später war er seinen Job los, obwohl er den VfB sogar noch bis ins Finale des Europapokals geführt hatte.

In dieser Woche ist Löw zurück in Stuttgart. Die Nationalmannschaft bestreitet am heutigen Mittwoch ihr erstes Testspiel im WM-Jahr und zugleich das letzte, bevor der Bundestrainer seinen Kader für die Weltmeisterschaft in Brasilien benennen muss. Zwei Tage vor dem Spiel hat Joachim Löw beim Hauptsponsor des Deutschen Fußball-Bundes seinen ersten öffentlichen Auftritt in diesem Jahr. Pressekonferenz zum Spiel gegen Chile. Chile wird mit keinem Wort erwähnt.

Von den Niederungen des Vereinsfußballs ist Löw weit entfernt

Zu Löws Pressekonferenz schwebt ein Aufzug mit Lederpolstern an den Wänden in den achten Stock. Von hier oben ist das Dach des Stuttgarter Stadions zu sehen, daneben die Geschäftsstelle des VfB. Von den Niederungen des Vereinsfußballs ist Löw inzwischen weit entfernt, viel weiter als nur die acht Stockwerke. Das mit den Haaren zum Beispiel „würde er heute nicht mehr mit sich machen lassen“, sagt Fredi Bobic, der jetzt Sportdirektor beim VfB Stuttgart ist und damals fleißig mitrasiert hat. Löw besitzt schon durch sein Alter, seine Erfahrung und vor allem sein Amt eine ganz andere Autorität. Und doch haben sich ein paar Urteile von damals bis heute gehalten: dass Löw zu weich sei, zu nachsichtig mit den Spielern, nicht entschlossen genug für den großen Erfolg – und dass er deshalb in den entscheidenden Spielen stets versage.

Sami Khedira hat einmal die Frage gestellt, was denn überhaupt ein entscheidendes Spiel sei. Für die Öffentlichkeit ist es immer das letzte, das die Nationalmannschaft verloren hat. Aber um bei einer Weltmeisterschaft im Halbfinale gegen Spanien ausscheiden zu können, muss man schon vorher ein paar entscheidende Spiele gewonnen haben: in der Qualifikation, in der Vorrunde und in den K.-o.-Spielen. Die große Mehrzahl davon hat die Nationalmannschaft seit Löws Amtsantritt im Sommer 2006 für sich entschieden. Nur die letzten eben nicht: das EM-Endspiel 2008, das WM-Halbfinale 2010 und das EM-Halbfinale 2012. Dieses fortgesetzte Scheitern wird nicht den Spielern angelastet, sondern ausschließlich Joachim Löw. Weil er die falsche Taktik gewählt hat; weil er die falschen Spieler aufgestellt hat; weil er im entscheidenden Moment nicht mutig genug war. Und nicht mehr in der Lage, von außen auf seine Mannschaft einzuwirken.

Joachim Löw ist der taillierte Bundestrainer. Seine Bilanz ist wie seine Anzüge: modisch auf der Höhe, aber für den Massengeschmack ein wenig zu eng geschnitten. Löw hat einmal gesagt, er würde sich wünschen, „unsere Mannschaft bekäme mehr Anerkennung dafür, dass sie so einen kreativen, offensiven Fußball spielen kann“. Das Volk aber giert nach Titeln. 18 Jahre warten die Deutschen schon, seit der EM 1996 in England. Mit jedem vergeblichen Versuch wächst die Sehnsucht. Genauso wie der Zweifel, ob Löw der richtige Trainer dafür ist.

Vier Neulinge hat Löw nominiert

In diesen Tagen wirkt der Bundestrainer entschlossen wie lange nicht. „Mit Blick auf die WM dürfen und werden wir keine Kompromisse eingehen“, hat Löw am Wochenende gesagt und seine Worte gleich mit Taten unterfüttert. Vier Neulinge hat Löw für das Spiel gegen Chile nominiert: Pierre-Michel Lasogga, den bulligen Angreifer vom Hamburger SV. André Hahn vom FC Augsburg, der vor anderthalb Jahren noch in der Dritten Liga gespielt hat. Dazu den 20 Jahre alten Matthias Ginter vom Abstiegskandidaten SC Freiburg. Und Shkodran Mustafi, einen Verteidiger aus der U-21-Nationalmannschaft, der bei Sampdoria Genua spielt. „Der sagt mir nicht viel“, hat selbst Kapitän Philipp Lahm zugegeben.

99 Tage sind es noch, bis die Weltmeisterschaft in Brasilien beginnt, normalerweise ist das nicht gerade der ideale Zeitpunkt, die Mannschaft noch einmal auf links zu drehen. Dass Löw es trotzdem tut, ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Weil er eigentlich ein vorsichtiger Mensch ist, der am liebsten am Bewährten festhält. Niemand hat von ihm gefordert, Lasogga, Hahn, Ginter oder Mustafi in die Nationalmannschaft zu berufen, und zwar zackig. Löw hat es trotzdem getan. Vermutlich wird sich im Juni kein Einziger der vier im WM-Aufgebot wiederfinden. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass der Bundestrainer zeigt: Ich kann auch anders. Seinen Spielern. Vor allem aber sich selbst.

Löw ist kein Schleifer

Joachim Löw zählt nicht zu den Schleifern unter den Trainern, zu den Brandrednern und Motivationsmonstern. Seine Autorität bezieht er aus dem Fachlichen. Löw hat schon häufiger erzählt, wie er als Spieler unter den Methoden seiner Vorgesetzten gelitten hat. Da nahm der Trainer eine Handvoll Kiesel vom Boden und ließ seine Mannschaft um den Platz laufen. Nach jeder Runde warf er einen Stein weg, und wenn er keine Steine mehr in der Hand hatte, durfte die Mannschaft aufhören. Löw hat sich von seinen Trainern schon als Spieler konkrete Handlungsanweisungen gewünscht, anstelle vager Befehle wie: Wir müssen besser in die Zweikämpfe kommen. Schön und gut – aber wie geht das: in die Zweikämpfe kommen? Auch wegen seiner eigenen Erfahrungen ist Löw ein Trainer für die Spieler geworden. Und keiner für die Öffentlichkeit, die es gern etwas handfester hätte.

Joachim Löw hat Möglichkeiten, von denen seine Vorgänger nur träumten

Natürlich ist Löw auch auf die öffentliche Wirkung bedacht, als er am Montag über den Dächern von Stuttgart versucht, eine Mannschaft auf den Boden zurückzuholen, die längst in anderen Sphären zu schweben scheint. „Löw knallhart“ titeln die Zeitungen am Tag danach. Oder: „Warnung an die Rasselbande.“ Die Botschaft ist offensichtlich angekommen. Löw verlangt von seinen Spielern, dass sie ab sofort noch mehr trainieren und ihr ganzes Leben auf die WM ausrichten. Drei Monate vor dem Turnier ist für den Bundestrainer „die Phase der Wahrheit und Klarheit“ angebrochen. Das gilt nicht nur für die Mannschaft. Das gilt auch für ihn.

Kaum jemand wird bestreiten, dass Joachim Löw ein guter Trainer ist. Er hat die Nationalmannschaft bei jedem Turnier unter die ersten vier geführt. Aber wirklich herausragend war Löw als Trainer nur, wenn er kompromisslos war, konsequent und mutig. Also eigentlich nur bei der WM 2010 in Südafrika, als der Bundestrainer seine Spieler stürmen ließ – zumindest bis zum Halbfinale gegen Spanien.

Es ist kein Zufall, dass sich die Nationalmannschaft in Löws Amtszeit nie so sehr verändert hat wie zwischen der EM 2008 und der WM 2010. Innerhalb von zwei Jahren hat Löw damals die halbe Stammelf ausgetauscht. So viel Mut hat er danach nie wieder bewiesen. Bei der EM 2012 ließ der Bundestrainer die bewährten Kräfte spielen; die aufstrebenden Talente – Ilkay Gündogan, Marco Reus, André Schürrle – blieben weitgehend auf der Bank.

Nie gab es eine Mannschaft, die so schön spielte

Löw besitzt Möglichkeiten, von denen seine Vorgänger nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Nie gab es eine Nationalmannschaft, die in der Lage war, so schön zu spielen, so leicht, in ihren besten Momenten fast schwebend. Nie schien der deutsche Fußball über mehr Talente zu verfügen als im Moment. Und nie muss es demnach so leicht gewesen sein, Bundestrainer zu sein. Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, weiß, dass die Leute so denken: „Hier bekommt Jogi Löw einen wunderbaren Kader auf dem Tablett serviert. Er muss den doch nur noch entgegennehmen und Weltmeister werden. Das ist nicht so.“

Zurzeit ist das weniger denn je so. „Die Wahrheit“, sagt Löw, „die Wahrheit sieht nicht so schön aus im Moment.“ 99 Tage vor der WM sind viele Spieler, wichtige vor allem wie Sami Khedira oder Ilkay Gündogan, verletzt; andere, ebenso wichtige wie Mesut Özil oder Marco Reus, suchen verzweifelt ihre Form. „Bei der Weltmeisterschaft gilt: Die Realität schlägt die Theorie“, sagt der Bundestrainer. In der Theorie wird er eine Mannschaft aufbieten können, die vielleicht die beste ist, die je für Deutschland gespielt hat. Und in der Realität?

Löw malt schöne, mächtige Bilder

Löw ist mehrere Male in Brasilien gewesen. Vor einem Jahr hat er den Confed-Cup, die offizielle Generalprobe der WM, besucht. Er hat sich ein Bild von den Bedingungen machen können, von den klimatischen Voraussetzungen, den riesigen Dimensionen des Landes, von all den Unwägbarkeiten und der Macht des Fußballs in Brasilien. „Das Land hat 200 Millionen Leute, die eine unglaubliche Energie auf ihre Mannschaft ausstrahlen“, sagt Löw. Seit ein paar Monaten spricht er von den Urkräften, auf die sich sein Team in Brasilien einstellen müsse. Es ist ein schönes, mächtiges Bild, das Löw immer wieder bemüht – und das doch für viele nur wie eine vorab erteilte Absolution für das mögliche Scheitern klingt. „Das sind keine Ausreden“, sagt der Trainer, „das sind Tatsachen.“

Es ist nicht so, dass sich Löw nicht auskennt mit extremen Bedingungen. Vor ein paar Jahren hat er den Kilimandscharo bestiegen. Es war das Anstrengendste, was er in seinem Leben gemacht hat. Dem „Spiegel“ hat er einmal von dieser Grenzerfahrung auf fast 6000 Metern erzählt, vom Schlafmangel, den Kopfschmerzen, der völligen Entkräftung: „Dann geht man auf der letzten Etappe sieben, acht Stunden zum Gipfel, nachts, bei minus zehn Grad und starkem Wind. Da habe ich bestimmt zehnmal zu meinem Bergführer gesagt: Ich drehe jetzt um, ich kann nicht mehr.“ Aber Löw hielt durch, setzte sich kleine Ziele, tat Schritt für Schritt und erreichte am Ende in einem Zustand ungeahnter Euphorie den Gipfel. Aus dieser Erfahrung hat er viel gelernt: „Für den menschlichen Körper und den menschlichen Geist gibt es fast keine Grenzen.“

Noch nie hat ein europäisches Team in Amerika den WM-Titel gewonnen

Die Mannschaft wird auch in Brasilien schwierige Momente erleben. Oliver Bierhoff hat schon vor einem Jahr gesagt: „Es ist für uns fast ein Ding der Unmöglichkeit, das Turnier in Brasilien zu gewinnen.“ Im Grunde hat er damit nur eine statistische und historische Selbstverständlichkeit ausgesprochen. Sieben der bisherigen 19 WM-Endrunden sind in Süd-, Mittel- oder Nordamerika ausgespielt worden; bei keinem dieser Turniere hat eine Mannschaft aus Europa den Titel geholt. Und trotzdem ist der Satz des Managers wie eine vorzeitige Kapitulation angekommen.

Das Klima, die Reisestrapazen, die Historie, die Statistik, die Schiedsrichter – vielleicht wird es am Ende plausible Gründe dafür geben, dass die Deutschen im Sommer erneut ihr Ziel verfehlt haben. Und doch würde es wohl niemanden interessieren. Vermutlich ahnt Joachim Löw längst, dass die Weltmeisterschaft in Brasilien darüber entscheiden wird, wie er, der zehnte Bundestrainer, in die Geschichte des deutschen Fußballs eingehen wird: als erfolgreicher Erneuerer oder als der große Unvollendete und damit letztlich nur als ein Mann des Übergangs. Für wen auch immer.

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