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Jürgen Klopp: Aus der Tiefe des Traums

Er liebt den Fußball mit fast kindlicher Naivität. Er tobt und explodiert vor Freude. Dortmunds Meistermacher Jürgen Klopp ist ein Romantiker mit Hirn und ein Intellektueller mit Herz. Aber er hat nicht nur den Titel geholt, sondern eine alte Glückseligkeit zurückgebracht.

Die hohen Herren vom Hamburger SV haben beste Sicht auf dieses seltsame Schauspiel, und vielleicht fühlen sie sich in diesem Moment noch einmal in ihrer Haltung bestätigt. Genau vor der Ehrentribüne läuft auf einmal dieser Wahnsinnige die Seitenlinie entlang: das Gesicht zur Fratze verzogen, die Zähne gefletscht, Oberkiefer nach links, Unterkiefer nach rechts, und mit seiner rechten Faust hämmert er Löcher in die Luft. „Reif für die Klapsmühle?“, wird die „Bild“-Zeitung am Tag danach fragen. Der vermeintliche Irre heißt Jürgen Klopp und ist Trainer von Borussia Dortmund.

Man muss dazu wissen, dass der Hamburger SV auch einmal über Klopp nachgedacht hat, als der noch Trainer in Mainz war. Der Verein schickte seine Scouts los, um nähere Informationen über ihn und seine Arbeit einzuholen, am Ende aber scheiterte es an ein paar Äußerlichkeiten. Der Kandidat sei mit Löchern in der Jeans zum Training erschienen, steht im Dossier über Klopp, er habe einen Dreitagebart, außerdem rauche er. Die Hamburger fanden, das passe nicht zu ihrem gediegenen Klub.

Drei Jahre ist das jetzt her. Fünf Trainer hat der HSV seitdem beschäftigt, die heute zu Ende gehende Saison der Fußball-Bundesliga wird der Klub bestenfalls auf Platz sieben beenden. In Dortmund feiern dann ein paar hunderttausend Menschen die Meisterschaft, und dass es so weit gekommen ist, hat auch etwas mit dem Spiel in Hamburg zu tun. Kurz vor Schluss liegen die Dortmunder 0:1 zurück, und wenn sie verlieren, gehen fünf Wochen vor Saisonende die ganzen Diskussionen wieder los, ob der BVB vielleicht doch noch nervös wird. Die Nachspielzeit ist fast vorüber, da fliegt der Ball ein letztes Mal in den Hamburger Strafraum, Jakub Blaszczykowski nimmt ihn volley und trifft zum 1:1. Das ist der Moment, in dem Klopp anfängt zu laufen.

Wenn man Jürgen Klopp, 43 Jahre alt, am Spielfeldrand erlebt, könnte man meinen, dass er im Grunde immer noch lieber Spieler wäre. Genau das Gegenteil ist der Fall: Klopp war schon als Spieler eher Trainer – wobei der Übergang, auch in seiner Biografie, fließend ist. An einem Sonntag im Februar 2001 steht Klopp als Verteidiger für Mainz auf dem Platz, am nächsten Tag leitet er das Training seiner alten Kollegen. Mainz droht der Abstieg aus der Zweiten Liga, und Klopp bleiben ganze zwei Tage bis zum nächsten Spiel. Beim ersten Training schiebt er die Spieler über den Platz und studiert mit ihnen Laufwege ein – alles ohne Ball. Als Spieler hat er solche Einheiten gehasst. Als Trainer ist er davon überzeugt, dass eine Mannschaft mit einem klaren Plan ihre Defizite an individuellem Talent kompensieren kann.

Jürgen Klopp ist ein Fußballintellektueller mit Herz. Oder ein Fußballromantiker mit Hirn. Er kann sich immer noch an diesem Spiel berauschen, aber wenn er seinen Spielern taktische Feinheiten erklären will, bittet er sie in einen Besprechungsraum. Das macht er nicht in der Kabine, wo es nach Schweiß und Rasen riecht und noch aus der Dusche dampft.

Eine erste Begegnung. Sieben Jahre ist das jetzt her. Klopp ist gerade mit Mainz in die Bundesliga aufgestiegen. Im Stadion herrscht großer Auflauf. Die Zeugen Jehovas halten an diesem Tag eine Massentaufe ab. Klopp ist noch weit davon entfernt, ein Liebling der Massen zu sein, aber alles, was ihn in den nächsten Jahren zur Übergröße wachsen lässt, ist in ihm längst angelegt, seine rhetorische Brillanz, seine offene Art, vor allem aber die Leidenschaft für den Fußball. Klopp erzählt, dass er sich manchmal Liveübertragungen aus der englischen Premier League anschaue – ohne Bild. Nur den Ton. Er versucht das Spiel dann sozusagen mit den Ohren zu lesen. „Das ist unfassbar. Das geht. Wenn man das richtig laut aufdreht, ist das einfach genial.“

Sein Aufstieg zum Liebling des Volkes beginnt in einer Kneipe in Mainz. Sie heißt „Zum Willi“, liegt nur ein paar Schritte von Klopps Wohnung entfernt und ist, zufälligerweise, auch die Stammkneipe von Dieter Gruschwitz, dem Sportchef des ZDF. Man kennt sich flüchtig, kommt ins Gespräch, meistens geht es um Fußball. Gruschwitz ist begeistert von Klopps analytischen und rhetorischen Fähigkeiten, und immer mehr reift in ihm die Idee, den Trainer der Mainzer als Experten zu gewinnen. Für die WM 2006 sucht das ZDF einen Nachfolger für Franz Beckenbauer. Klopp ist gleich Feuer und Flamme, sagt Gruschwitz; die Reaktion in seiner Redaktion fällt „verhalten positiv“ aus. Immerhin.

Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass Gruschwitz’ Plan einer Revolution gleichkommt. In Deutschland muss man mindestens Weltmeister gewesen sein, um für den Job als Experte überhaupt infrage zu kommen. Klopp hat 325 Zweitligaspiele bestritten – und er trainiert zu diesem Zeitpunkt einen mittelmäßigen Erstligisten. Darf uns so einer jetzt den großen Fußball erklären und die Fehler im Spiel des Weltmeisters Brasilien sezieren? Aber Klopp ist anders. Er malt Striche, Kringel und Linien auf den Bildschirm, entwirft Lauf- und Passwege und eröffnet dem Publikum einen ganz neuen Blick auf das Spiel. „Er hat nie einen Spieler oder Trainer an die Wand genagelt“, sagt Gruschwitz. „Er hat die Situationen erklärt. Aber aus den Erklärungen konnte man erkennen, wer einen Fehler gemacht hat.“

Seinen Durchbruch, wenn man das so nennen kann, erlebt Klopp bei der WM 2006. Das Land berauscht sich gerade an sich selbst, im ZDF-Studio am Potsdamer Platz herrscht Stadionatmosphäre, Klopp ist in seinem Element. Einmal ist Pelé, der wohl beste Fußballer aller Zeiten, zu Gast. Die Legende aus Brasilien tänzelt auf die Bühne, später beim Abschied umarmt er seine Gastgeber. Danach stammelt Klopp: „Pelé. Pelé! Hat mich gerade umarmt. Wahnsinn.“

Zwei Tage vor dem letzten Spiel dieser Saison. Rund um das Dortmunder Stadion stehen schon die Bierbuden für die Meisterfeier. Der BVB stellt sein neues Trikot vor, und natürlich – darauf weist der Marketingmensch des Ausrüsters ausdrücklich hin – gibt es auch für den Trainer eine neue Kollektion, mit Kappe, Polohemd und Hoodie. „Was?“, fragt Klopp. Hoodie? „Kapuzenpulli hieß das früher.“ In manchen Dingen ist Klopp altmodisch – vor allem wenn es um Fußball geht. Für das letzte Spiel gegen Frankfurt wünscht sich Dortmunds Trainer noch einmal „eine richtige Fußballatmosphäre“, nicht diese Ultra-Gesänge in der Dauerschleife, „die ein bisschen am Spiel vorbeigehen“. Klopp will, dass die Leute auf das reagieren, was auf dem Feld passiert: dass sie jauchzen und stöhnen, brüllen und pfeifen. Dass es wieder genau so ist wie früher.

Die Dortmunder haben dem Fußball in dieser Saison ein Stück Romantik zurückgegeben: Sie haben die alte Elf-Freunde- Glückseligkeit bedient und gemeinsam ein paar scheinbar ewige Gewissheiten außer Kraft gesetzt. Ja doch, es ist möglich, eine ganze Saison lang das Gaspedal bis zum Anschlag durchzutreten. Und nein, Fußballer denken nicht immer nur ans Geld. Mats Hummels hat seinen Vertrag in Dortmund verlängert, obwohl die Bayern ihn umgarnt haben. Es sei keine schwierige Entscheidung gewesen, sagt der Innenverteidiger. Was beim BVB passiere, „das ist so besonders, dass ich nicht weiß, ob ich so etwas noch einmal erleben werde“. Hummels ist 22. Von Marcel Schmelzer, der unter Klopp zum Nationalspieler geworden ist, wird folgender Dialog mit seinem Berater überliefert. Es gebe da interessante Anfragen, ob er davon wissen wolle. „Will ich nicht. Lehn sie ab!“ Und Sven Bender, Borussias Laufwunder aus dem defensiven Mittelfeld, sagt: „Wir würden uns eher für den anderen verletzen, als ihn im Stich zu lassen.“

Jürgen Klopp hat sich in Dortmund eine Mannschaft mit lauter kleinen Klopps geschaffen. Was sie im Inneren zusammenhält, das steht im Trainingszentrum an der Wand, Schwarz auf Gelb. „Unser Versprechen“ haben die Dortmunder ihre sieben Gebote genannt, eine Art Selbstverpflichtung. „Leidenschaftliche Besessenheit“ gehört dazu, „bedingungsloser Einsatz“ und „Zielstrebigkeit unabhängig vom Spielverlauf“. Es heißt sogar, die Spieler hätten untereinander einen Pakt geschlossen, als Mannschaft zusammenzubleiben. Einen solchen Pakt habe es nie gegeben, sagt Nuri Sahin, das Hirn der Mannschaft, am Anfang dieser Woche. Da hat er gerade bekannt gegeben, dass er nächste Saison für Real Madrid spielen wird.

Das Dortmunder Idyll ist längst in Gefahr. Umso mehr gilt es, den Augenblick zu genießen. Zur letzten öffentlichen Trainingseinheit der Saison sind in dieser Woche fast tausend Anhänger gekommen. Anderthalb Stunden trainiert die Mannschaft am entfernten Ende des Geländes, zu erkennen ist aus der Ferne fast nichts. Aber entscheidend ist sowieso das, was nach dem Training passiert. Spieler und Trainer schlendern an den Zaun, jeder hat einen dicken Filzstift in der Hand.

„Jürgen Klopp ist ein Menschenfänger“, sagt Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc. Die Leute stehen in Dreierreihen hinter der Absperrung, Klopp fängt am äußersten Punkt an, 120 Meter liegen vor ihm, die ganze Länge des Spielfelds – und er lässt keinen einzigen Meter aus. „Jürgen, können wir ein Foto machen?“ Natürlich. „Herr Klopp, unterschreiben Sie hier noch?“ Aber sicher. Meisterschalen werden ihm zum Signieren gereicht, „am besten genau in die Mitte“. Klopp unterschreibt auf Handys, einer Küchenuhr, Fußballschuhen, Trikots, Schals und Kappen sowieso. Ältere Damen bitten ihn um Autogramme, junge Mädchen gackern, wenn sie Klopp ansprechen, und sie lächeln selig, wenn sie ihren Kopf für ein Foto gegen seine Brust lehnen.

Eine gute Stunde dauert es, bis Klopp alle Wünsche bedient hat. Auf halber Strecke wird ihm Elias, ein Säugling mit blonden Locken, in die Hände gedrückt. Er hat einen BVB-Schnuller im Mund, Klopp grinst ihm ins Gesicht. Es ist hinter dem Schnuller nicht genau zu erkennen, aber es sieht so aus, als würde Elias anfangen zu lachen.

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