zum Hauptinhalt
Jürgen Klopp.

© dpa

Jürgen Klopp im Interview: "Ich sehe das Leben als Geschenk"

Hier lüftet Jürgen Klopp einige Geheimnisse: Was passiert in der Halbzeitpause? Wo ist sein Dialekt geblieben? Und warum hatte er Angst, seine Frau umzugrätschen?

Herr Klopp, Ihr Image ist sensationell positiv. Kürzlich hat der „Focus“ gemeldet, Sie hätten Franz Beckenbauer als deutsche Werbeikone abgelöst und Ihren Wert auf 1,5 Millionen Euro jährlich geschätzt. Haben Sie sich an Ihre Popularität gewöhnt?

Nein, darüber staune ich nach wie vor. Und ich habe tatsächlich einige gute Werbepartner. Aber nicht mit allen, die da aufgezählt waren, hab‘ ich noch was zu tun. Metylan ist vorbei…

…das war dieser etwas peinliche Werbespot für Tapetenkleister.

Ja, ja. Ich war jung und brauchte das Geld, mehr ist da nicht zu sagen. War keine so gute Idee, es ist halt passiert.

Als Sie vor sieben Jahren noch ein eher unbekannter Trainer in Mainz waren, sagten Sie: „Wenn Sie mich mal mit schlechter Werbung im Fernsehen sehen, dann wissen Sie: Jetzt hat er’s geschafft. Da rauscht die Kohle nur so rein.“

Das Letztere war dann leider nicht der Fall. Davon hat sich nur der erste Teil meiner Aussage realisiert. Ich sage Ihnen aber ganz ehrlich, es war nie mein Ziel, diese öffentliche Person zu werden, die ich geworden bin. Ich wollte nie erfolgreich werden, um dann von allen Menschen erkannt zu werden. Ich wollte als Trainer in die Bundesliga, das schon. Und dann kam die Weltmeisterschaft 2006 und das ZDF, mit den Auswirkungen habe ich nie gerechnet.

So naiv, Herr Klopp, sind Sie nicht! Sie traten als Experte wochenlang vor Millionen Zuschauern auf und ganz Deutschland war bei dieser WM im Delirium.

Hätte ich das vorher wissen müssen? Ich hatte nie solche Expertenrunden geguckt, es hat mich nicht die Bohne interessiert. Ich habe Fußball im Fernsehen angeschaut, einschalten, ausschalten. Als das ZDF damals angerufen hat, war meine Frage original: Kriege ich dafür Freikarten? Die haben ja gesagt und meine Antwort war: Gut, machen wir. Dann gab es im Schnitt knapp 30 Millionen Zuschauer, und auf diese Veränderung unseres Lebens waren wir nicht eingestellt. Wenn meine Frau mit dem Gartenschlauch die Blumen gegossen hat, guckten schon ein paar Nasen über den Zaun. So schnell so bekannt, wem passiert denn das?

Das hat sich noch deutlich gesteigert. Als gerade klar wurde, dass Borussia Dortmund für die angeschlagene Automarke Opel wirbt, sagte ein Moderator im Radio: „Jetzt hoffen die Opel-Arbeiter auf Jürgen Klopp und seine Mannschaft.“ Sie sollen Arbeitsplätze retten. Sie werden gehandelt wie ein Erlöser!

Ich kann ja nichts für die Erwartungen von Schwachköpfen. Ich fahre Auto, seit ich 18 bin, und ich habe oft gedacht: Der Mensch, der das Design für Opel-Autos macht, will dem Unternehmen schaden. Und dann sitze ich in so einem Wagen und denke, das gibt’s doch gar nicht. Überragend!

Was sonst können Sie jetzt sagen.

Nein, wirklich, die bauen echt geile Autos. Da sollte es doch möglich sein, auch das Image zu ändern.

Und Sie lassen ab sofort Ihren Porsche stehen, ernsthaft?

Das ist doch klar.

Eine hübsche Anekdote aus früher Zeit: Ihren ersten Werbevertrag haben Sie sich regelrecht erbettelt, und Sie bekamen nicht einmal Geld dafür.

Na ja, als Trainer von Mainz wollte keiner einen Vertrag mit mir abschließen, das Interesse der Ausrüster war unter Null. Da hab ich gedacht, dann möchte ich wenigstens die Klamotten anziehen, die mir am besten gefallen. Das war Nike, die Sachen fand ich cool. Also bin ich hin, sagte, Kohle will ich nicht. Alles gut. Genau so hat es angefangen.

Was Sie sind, verdanken Sie dem Fußball. Haben Sie den alleine entdeckt?

Offenbar habe ich schon Fußball gespielt, ehe ich anfing, bewusst zu denken. Ich weiß das nur von Fotos. Die zeigen ein kleines Tor im Wohnzimmer, das vor der Vitrine stand. Erinnern kann ich mich dann, wie ich das Sofa benutzt habe, um fliegen zu üben und dabei den Ball zu fangen. Verschiedene farbige Couchgarnituren haben darunter gelitten.

"Bei Wind und Wetter waren wir auf dem Sportplatz"

Ihr Vater soll eine Sportskanone gewesen sein.

Er war unglaublich, ein Autodidakt, der alles im Vorbeilaufen gelernt hat. Er war sogar als 18-Jähriger als Torwart beim Probetraining in Kaiserslautern, bei der großen Mannschaft von Fritz Walter. Das war  vor der WM 1954 und mein Opa Karl unterlag der dramatischen Fehleinschätzung: Fußball hat keine Zukunft, also lass das! Er hat dann ein Handwerk erlernt.

Als Pädagoge war der Vater nicht besonders geschickt. Sie klagten mal, er habe Sie nie gelobt.

Das war eben sein Prinzip, Leistung aus mir zu kitzeln. Wenn ich Hopserlauf machte und sprang ihm nicht hoch genug, hieß es: Da passt ja ein ganzes Blatt Papier drunter! Er hatte halt nicht den richtigen Text parat. Seine Taktik war so offensichtlich, ich bin da recht früh durchgestiegen. Dann hat es nicht gekitzelt, sondern genervt.

Ein Kind will eher Anerkennung und Zuneigung.

Es war halt seine Art, ich fühlte mich schon geliebt. Er hat sich unfassbar viel Zeit genommen dafür, um mich zu einem Sportler auszubilden, bei Wind und Wetter waren wir auf dem Sportplatz, Wettrennen, Kopfballpendel. Er hat mich bei den Leichtathleten angemeldet, damit ich schneller werde.

Sie haben Abitur gemacht und sind später Profi geworden. Hat Ihr Vater nicht auch gesagt: Junge, mach als Beruf was Anständiges.

Nie. Das war das erste große Glück meines Lebens, genau das zu tun, was mein Vater selbst einmal wollte. Ich habe ja sein von ihm erträumtes Leben gelebt. Mit jedem anderen Job hätten wir reichlich Stress gehabt, fürchte ich.

Zur ganz großen Profi-Karriere hat es nicht gereicht.

Ich habe selbst vor allen anderen gemerkt, wo mein Limit ist. Ich war so eine Willens- und Kampfmaschine, extrem kopfballstark und sehr schnell. Technisch war ich nicht gut genug. Kurz gesagt: Im Kopf war ich erste Bundesliga, mit den Füßen Landesliga, herausgekommen ist zweite Liga. Darüber unglücklich zu sein, fand ich Zeitverschwendung, ich habe das rasch akzeptiert. Problem war höchstens das Gehalt, 2300 Mark netto im Monat hören sich ganz gut an, aber man macht den Beruf nur zehn Jahre. Ich wusste, die Aussicht für später ist nicht so doll.

Joachim Löw hatte als Junge Günter Netzer zum Vorbild, ein Star mit langen, wehenden Haaren, so wollte er sein. Für wen haben Sie denn geschwärmt?

Karlheinz Förster.

Bitte?

Das ist hart, oder?

Förster war als Vorstopper mit dem VfB Stuttgart Deutscher Meister, 1980 sogar Europameister, er kam auf 81 Länderspiele. Aber er galt als „Blutgrätscher“, als „Treter mit dem Engelsgesicht“ wurde er tituliert...

…und dann hatte er noch nicht mal lange Haare. Ich habe ihm sein mangelndes Talent angesehen, und daraus so eine Karriere zu schnitzen, dafür habe ich ihn sehr bewundert. Zu meiner Zeit als Spieler bekam man ja für die ganze Saison dieselbe Rückennummer, und ich nahm mir die 4, obwohl ich Stürmer war. Die 4, das war die Nummer von Karlheinz Förster. Tut mir leid, ich weiß, Netzer klingt besser.

Aus Ihnen ist ein emotionaler Berserker geworden, ein Umarmer, ein Ansporner Ihrer Spieler. Haben Sie sich ganz bewusst entschieden: Ich verhalte mich mal anders als Vater?

Nein. Es gibt klassischerweise zwei Methoden, Erziehung weiter zu geben. Einmal der großartige Satz: Es hat mir nicht geschadet. Oder: So werde ich nie. Und beides ist falsch. Ich habe früh gespürt, dass es nur so geht, wie ich nun mal gestrickt bin, und mein Glück ist, dass Motivation auf meine Art anscheinend funktioniert. Ich könnte nicht anders sein.

Hat es bei Ihrem Sohn geklappt? Er ist 23 und spielt auch Fußball.

Wir haben ein sensationell gutes Verhältnis. Aber klar, es ist nicht einfach mit so einem bekannten Vater, wie es für mich nicht einfach war mit einem übertalentierten Vater. Und ich konnte ihm nicht so viel Zeit widmen. Ich bin jung Papa geworden, ich habe Fußball gespielt, habe studiert. Ich war abends müde und verspürte keine Lust, noch um die Ecke auf dem Bolzplatz mit ihm zu kicken.

Anfang der 90er Jahre war das, und der Fußball hat sich seitdem revolutioniert. Arsene Wenger ist als Trainer von Arsenal London ein Datenfreak, José Mourinho von Real Madrid stürzt sich auf die Analysen des sogenannten Trackingsystems der Firma Amisco. Dabei wird ein ganzes Spiel gefilmt, jeder Schritt vermessen, mehr als 2000 Momente werden notiert, aus nur 90 Minuten werden 4,5 Millionen Daten generiert. Was zum Teufel machen Sie damit?

Nichts. Ich habe diese Zahlen nicht.

Nun, Sie haben bei Dortmund die Auswertungen der Firma Impire und...

…es interessiert mich nur ein kleiner Bruchteil davon. Grundsätzlich ist die beste Analyse für mich nach wie vor, sich das Spiel noch mal anzugucken - gaaanz, ganz altmodisch. Tape rein und dann vorspulen und zurückspulen, vorspulen und zurückspulen – eintausend Mal. Fünf, sechs Stunden für die 90 Minuten, das war fix. Schneller hab ich es nie hingekriegt. Um es ganz klar zu sagen: Das war meine Ausbildung! Kein Buch, kein Seminar, keine Hospitanz bei bekannten Trainern. Zehn Spiele pro Woche, ich fing schon vor dem Frühstück damit an.

Und dann saßen Sie schon als junger Trainer auf der Couch, haben auf den Bildschirm gestarrt – und Notizen gemacht?

Logisch. Mein erster Fernseher war so ein Kombi-Modell mit Video, ich habe jahrelang alles auf Kassetten aufgenommen, was an Fußball lief. Komplett uninteressante Spiele, die außer mir niemand gesehen hat. Und immer gespult und gespult, ich habe mich über die saublöde Kameraperspektive tierisch aufgeregt, weil die immer das Gerangel um den Ball zeigten, und dass ständig Trainer und Zuschauer eingeblendet wurden. Ich wollte verstehen: Warum fällt das Tor? Wieso passiert was? Wo fing der Fehler an? Wenn alle alles richtig machen, dann schießt keiner ein Tor. Wissen Sie, wozu das noch gut war?

Sagen Sie’s.

Um nach dem Spiel Fragen beantworten zu können. Man hat doch als Trainer den blödesten Platz der Welt, ganz schlechter Blick aufs Geschehen. Ich habe anfangs so gut wie nichts vom Spiel gesehen, und in der entscheidenden Szene stand dann zufällig auch noch der Linienrichter vor meiner Nase. Meine Antworten nach dem Spiel waren wie Kaufladen spielen als Kind: Man tut so, als ob. Heute sehe ich alles, damals nichts. Inzwischen haben wir als Trainer auch besseres Material, aufgenommen von festen Kameras, die das ganze Spielfeld filmen. Seitdem dauert das Anschauen noch länger!

Berti Vogts hat sich mal auf die Tribüne gesetzt, um einen besseren Überblick zu haben.

Das macht total Sinn, ja, aber ich muss da unten sein, ganz nah dran.

Manchmal werden Sie hochgeschickt, wenn Sie sich gegenüber dem Schiedsrichter daneben benehmen.

Toll, da bin ich sehr dankbar dafür. Doch es kommt ja nicht mehr so häufig vor.

Die empirischen Daten haben Sie nun mal. Da steht dann zum Beispiel, Abwehrspieler Mats Hummels hatte 89 Ballkontakte und eine Passgenauigkeit von 93 Prozent. Was bringt Ihnen das?

Von der Tendenz her weiß ich das doch. Und an einen gravierenden Fehlpass könnte ich mich sowieso erinnern. Die Zahlen bestätigen den eigenen Eindruck, mehr ist es nicht. Auf Dauer sind sie ganz brauchbar, weil sie genauer sind als mein eigenes Gedächtnis.

Welche Daten sind denn relevant?

Wichtig ist Tempo, Ausdauer-Leistungsfähigkeit, Regenerationszeit. Also alles aus dem Bereich Gesundheit. Wir wollen da keine Risiken eingehen. Es wird ja gern erzählt, dieser oder jener Trainer macht alles im Training mit dem Ball. So ein Quatsch. Ausdauer kannst du nicht mit dem Ball üben, da musst du rennen, rennen, rennen. Und je besser die Ausdauer ist, desto konzentrierter können die Spieler ihrer Arbeit nachgehen. Das Tempo im Spiel lässt ja nicht nach, nur weil einer nicht mehr fit ist. Auf unserem Niveau musst du so gut trainiert sein, dass du ganz lange ganz wach bist im Oberstübchen.

"Ich bin total Oldschool"

Xavi, der für Barcelona und die spanische Nationalmannschaft spielt, sagt: Ich muss wissen, was ich mit dem Ball mache, ehe ich ihn habe.

Schneller denken ist wichtiger als schneller laufen, richtig. Die Spieler müssen andauernd im Bruchteil von Sekunden Entscheidungen treffen. Wichtig ist auch die optimale Laufleistung.

Das heißt?

Wir hatten schon Spiele mit 130 Kilometer...

…da ist dann jeder Spieler im Schnitt 13 Kilometer unterwegs…

…und wir haben andere mit 108 gewonnen. 22 Kilometer sind ein Riesenunterschied. Vielleicht sind wir in dem einen Spiel viel falsch gelaufen. Aber besser, es macht einer einen falschen Weg als er macht gar keinen.

Inzwischen forschen weltweit Wissenschaftler am Kicken, Physiker, Mediziner, Statistiker, es wird von „der Mathematisierung des Fußballs“ gesprochen. Wir geben Ihnen ein paar Beispiele. Eine Untersuchung aus England sagt, die gefährlichsten Eckbälle sind „inswinger“, also solche auf den kurzen Pfosten.

Schön, das hätte ich Ihnen auch aus dem Bauch raus sagen können. Diese Erkenntnis gibt mir nicht viel. Denn ich muss einen Plan an den Fähigkeiten von Spielern orientieren und nicht an statistischen Gesetzmäßigkeiten. Ich wirke vielleicht sehr offen, was neue Entwicklungen angeht, in Wirklichkeit bin ich total Oldschool.

Wie Franz Beckenbauer. Als der Trainer war und der Arzt kam, um den Spielern Blut aus dem Ohrläppchen zu nehmen, sagte er: Was brauch ich Laktat, ich seh doch, ob einer noch laufen kann.

Nein, nein, Laktatwerte brauche ich, um vernünftig arbeiten zu können. Sie zeigen exakt, wie stark einer belastbar ist, das Training ist heute ganz individuell auf den aktuellen Stand der Spieler ausgelegt. Als ich noch aktiv war, da hast du als schneller Spieler angefangen und als langsamer aufgehört. Das Motto war: Mehr ist mehr, immer noch etwas draufpacken. Ich habe im Training gekotzt vor Erschöpfung. Immer haben meine Schenkel gebrannt. Wir waren dauernd überlastet. Dass eine Pause mal sinnvoll sein kann, wusste damals keiner. Obwohl auch wir heute immer neue Reize setzen. Um die nächste Stufe zu erreichen, kannst du nicht im Wohlfühltempo rumlaufen, im Fatburnerbereich. Die Jungs sollen ja nicht dünner werden, sondern maximal leistungsfähig.

Noch so eine Erkenntnis: Es gibt acht Gründe, weshalb einem Spieler der Ball verspringt, und der häufigste ist, die Arme werde nicht symmetrisch gehalten.

Oh, auf die Armhaltung bei der Ballannahme habe ich noch nie geachtet. Klingt interessant. Wir haben ja viele technisch Hochveranlagte, ich werde mal drauf gucken.

Und noch eine wissenschaftliche Analyse, über Trainer: Ehemals durchschnittliche Fußballspieler…

…Da kann ich jetzt mitreden!...

…werden als Trainer nicht so schnell entlassen wie Ex-Nationalspieler.

Das leuchtet ein. Einfach, weil sich einer mit mäßigem Talent geistig viel mehr mit dem Spiel beschäftigen muss, um mithalten zu können. Ich habe – vom Stürmer bis zum Verteidiger – nahezu jede Position gespielt, das hat mir sicherlich auch geholfen, das Spiel besser zu verstehen. Aber bitte, Pep Guardiola war ein überragender Spieler und hat es als Trainer beim FC Barcelona auch nicht wahnsinnig schlecht gemacht.

Sie haben 1995, da waren Sie noch Profi, an der Uni Frankfurt ein Sportstudium abgeschlossen. Hat das geholfen?

Ach, ich weiß nicht. Ich war kein Vorzeigestudent, ich hatte Familie und musste mit Fußball Geld verdienen. Ich hatte natürlich mit Pädagogen zu tun, mit Psychologen und Soziologen, ich wusste etwas von Methodik. Vielleicht habe ich dadurch als Trainer leichter Lösungen gefunden, ohne dass es mir bewusst war. Bestimmt habe ich mich dadurch etwas sicherer gefühlt, denn wenn man wie ich als 33-jähriger Spieler plötzlich Trainer wird, weiß man nicht: Kann ich das denn? Möglicherweise hat mich das Studium vor dem frühen Scheitern bewahrt.

Ihre Mannschaft, Borussia Dortmund, spielt ein einmaliges System in der Bundesliga. Pressing auf dem gesamten Platz, Ihre Spieler jagen den Ball führenden Gegner wie im Rudel. Alles geht rasend schnell. Wann wussten Sie denn: Das ist meine Idee von Fußball?

Als ich noch gar nicht Trainer war. Ich dachte an die technischen Qualitäten von Real Madrid, als man die das weiße Ballett nannte, und dazu eine Arbeit gegen den Ball, als gäbe es kein Morgen. Diese Kombination wurde mein Ideal von Fußball – und das spielte irgendwann der FC Barcelona und Spanien. Sensationell gut. Obwohl sie mir bei der EM ein bisschen zu viel Ballbesitz hatten, so selten aufs Tor zu schießen entspricht nicht meinem Naturell. Aber bitte, die haben drei große Titel in Folge gewonnen, wer bin ich denn, dass ich auch nur die minimalste Kritik anbringe. Für mich war der prägendste Trainer Wolfgang Frank…

…bei dem Sie in Mainz Ihre letzten zwei Profijahre spielten. Was haben Sie von ihm gelernt?

Nun, wir waren alles nette Kerle, aber in unseren Qualitäten doch äußerst limitiert. Er sagte, wenn wir uns taktisch schlau verhalten, dann würden wir sehr schwer zu schlagen und für alle ein unangenehmer Gegner sein. Das haben wir gemacht. Defensiv waren wir grandios, und da war mir klar: Wenn ich mal was zu sagen habe, werden wir genau so verteidigen. Wir hatten nur ein riesiges Problem: Wir hatten ab und an auch mal selbst den Ball! Bei unserer dramatischen Qualität hätten wir ihn am besten gleich wieder hergegeben - und dann nichts wie drauf auf den Gegner.

Wem außer Wolfgang Frank haben Sie denn im Rückblick viel zu verdanken?

Walter Baur und Dietrich Weise. Ich bin ja in Glatten aufgewachsen, 1500 Einwohner im Nordschwarzwald, nicht gerade ein Hotspot des Fußballs, da war ich der Local Heroe, viele Tore geschossen, Mannschaften übersprungen. Baur war Trainer von TUS Ergenzingen, höchste Jugendliga, eine Legende in der Region. Der wollte eigentlich gar nicht mich haben, sondern einen besseren Spieler aus dem Nachbarort. Bloß, nach Ergenzingen sind es 28 Kilometer, und dessen Eltern wollten nicht immer Auto fahren. Meine Mutter fuhr dann einfach, und so war ich mit meinen 15 Jahren dabei. Walter Baur ist leider kürzlich gestorben, aber er war bis zuletzt als Scout für Borussia Dortmund beschäftigt.

Und Dietrich Weise…

…war Trainer bei Eintracht Frankfurt, gegen die machten wir in Ergenzingen ein Freundschaftsspiel. Thomas Berthold war ein junger Star bei denen, Nationalspieler, pfeilschnell. Und dem laufe ich zwei Mal locker weg, schieße das 1:0, habe einen guten Tag erwischt. Anschließend kam Weise auf mich zu und fragt: Willst du nach Frankfurt kommen? Ich habe mein Speziglas zerdrückt.

Vor Aufregung?

Ja klar. Mal ehrlich, du kamst aus dieser Region nicht weg durch den Fußball, das war eigentlich ausgeschlossen. Weggehen aus Glatten, das hieß, du gehst nach Tübingen an die Uni, das sind keine 70 Kilometer. Ich sagte Weise, ich hab doch noch ein Jahr bis zum Abitur. Er: Dann melde dich, wenn du fertig bist. Ich war dann gerade auf Abi-Fahrt in Griechenland, als es hieß, ich solle nach Frankfurt kommen. Und bis ich dort angekommen bin, war Weise entlassen!

Willkommen im Profi-Fußball.

Ach was, der neue Trainer hat mich zu den Amateuren gesteckt. Aber immerhin, so bin ich durch Weise überhaupt in den Frankfurter Raum gekommen, eine deutlich hellere Bühne für einen Profi als der Schwarzwald. Vier Jahre später war ich Profi bei Mainz. Das war für mich unfassbar, ich war ja so drauf: Ich hätte bezahlt, um Kicken zu dürfen! Um es klar zu sagen, an diesem einen Sommertag, als Dietrich Weise den Schwarzwald besuchte, hat sich vieles für mein Leben entschieden. Das Leben fügt sich auch durch eine Kette von Zufällen.

Was passiert in der Halbzeitpause in der Kabine?

In der vergangenen Saison fiel uns auf, dass Sie nach mittelmäßigen Spielen, die Ihre Mannschaft gewonnen hatte, richtig gerührt wirkten, emotional stark bewegt. Was packt Sie da so?

Einen guten Tag hat jeder mal, das interessiert mich nicht. An einem schlechten Tag musst du können, dafür lebst du als Sportler, da musst du dich zur Wehr setzen. Wenn ich das Gefühl habe, heute war ein Sieg fast unmöglich, weil der Gegner einen guten Plan hatte oder wir waren schlecht drauf, und unsere Jungs haben eben diesen einen Tick an Leidenschaft mehr investiert und dadurch verdient gewonnen – da will ich hin. Weil einem das als Mensch nicht nur hier oben (fasst sich an den Kopf) sondern hier unten (schlägt sich mit der Hand aufs Herz) zeigt: Ein bisschen mehr geht auch. Da sind wir bei Karlheinz Förster. Weil genau das dein Niveau an den guten Tagen dramatisch anhebt, das verleiht dir eine wunderbare Leichtigkeit. Deswegen hilft uns eine 1:0-Niederlage manchmal mehr als ein 2:0-Sieg nach einer schlechten Leistung, der vermittelt ein völlig falsches Bild. Denn ein Spiel ist mehr als das nackte Ergebnis, es ist für die Entwicklung der Mannschaft zuständig.

Sie bereiten Ihr Team akribisch vor, der gegnerische Trainer auch. Sehen Sie ein Fußballspiel auch als geistige Auseinandersetzung an?

Natürlich überlege ich, was sich ein gegnerischer Trainer taktisch einfallen lassen könnte gegen uns. Am Anfang einer Saison ist das deutlich schwerer, weil man noch nicht häufig gesehen hat, zu welchen Varianten sie fähig sind. Denn etwas völlig Verrücktes werden die gegen uns nicht auspacken. Normalerweise sucht Peter Krawietz…

…einer Ihrer beiden Co-Trainer…

…40, 50 Szenen aus den letzten drei Spielen eines Gegners aus, die relevant sein könnten, die schaue ich mir an und wir kürzen das auf 20 Szenen. Es geht da, das ist wichtig, nur um sich wiederholende Auffälligkeiten. Stehen die sehr tief hinten drin? Wie kommen wir also hinter diese letzte Linie? Wo stellen die ihre defensive Absicherung ins Mittelfeld? Dann parken wir unseren offensiven Mann in einem anderen Raum für unser schnelles Umschaltspiel.  So, und diese Szenen zeigen wir unseren Jungs. Offensive, Defensive, die guten Sachen, die Probleme. In der Tendenz sehen wir vom Gegner immer mehr Probleme als Positives, wir gehen da jedes Mal raus und wissen: Die sind schlagbar.

Es gibt einen großen Mythos: Die Halbzeitpause und was da in der Kabine passiert. Verraten sie’s?

Im Prinzip läuft das genau so ab. Wir haben bei jedem Spiel unseren Chef-Scout mit dem Laptop auf der Tribüne, der zeichnet das Spiel auf. Wir geben ihm Szenen durch, die uns auffallen. Fünf Minuten vor der Halbzeit werden diese Szenen rausgeschnitten, wir kommen in die Kabine, schauen das Material an und entscheiden, was wir nehmen. Die Jungs sammeln sich, trinken was, der Doc schaut die Burschen an. Dann gibt’s meine Ansprache, möglichst mit Bildern der ersten 45 Minuten.

Zum Beispiel?

Wenn du dich schwer tust und das Gefühl hast, du hast keinen Raum. Das ist ja Quatsch, das Feld ist viel zu groß, als dass man keinen Raum haben könnte. Unsere Jungs haben ihn nur nicht gesehen. Da hilft es total, wenn man ihnen zeigen kann, dass wir zu lange auf dem linken Flügel rummachen und hängen bleiben. Hier stecken wir fest, spiel jetzt einen Pass zurück auf Manni oder Sebastian, der verlagert auf die andere Seite, mit dem Durchlaufen auf die Grundlinie sind wir sofort torgefährlich. So. Ich bin von Sinn und Wert der Halbzeitpause total überzeugt.

Reichen die 15 Minuten?

Locker. Wissen Sie, was für eine Regeländerung ich gut fände? Eine Auszeit. Das gibt es beim Handball, beim Basketball, beim Football – und keinen stört’s. Der Mannschaft mal kurz was erklären. Und was sagst du ihr, wenn der Gegner eine Auszeit nimmt und du brauchst sie in dem Moment gar nicht? Das könnte neuen Pfeffer ins Spiel bringen.

Sie teufeln ja auch während des Spiels an der Seitenlinie herum, brüllen, gestikulieren, grimassieren. Mal ehrlich, helfen tut’s bestenfalls Ihrem eigenen Stressabbau.

Nein, nein, meine Stimme ist schon recht durchdringend. Es geht um viele Kleinigkeiten, die ich korrigieren will. Wenn unsere normale Aufbauformation sich als wenig sinnvoll erweist, zeige ich an: Außenverteidiger etwas höher stehen,  Innenverteidiger breiter, der 6er klinkt sich in die Reihe ein. Es gibt allerdings Spieler, die denken aus Erfahrung, wenn sie eine Trainerstimme hören: Der will mich zusammenscheißen! Die gucken dann gar nicht rüber zu mir. Es kann Jahre dauern, bis man das aus ihnen rauskriegt. Aber warum sollte ich jemanden im Affekt blöd anmachen, das hilft ihm ja nicht weiter.

Sie gelten als großer Motivator mit sozialer Kompetenz. Ist das in Ihrer Trainerzeit mühsam erlernt oder einfach so drin?

Mühsam erarbeitet sind Null Prozent. Ich habe mich nicht informiert, bei niemandem nachgefragt, niemanden beobachtet, nichts gelesen…

Moment mal. Der „Süddeutschen“ sagten Sie vor Jahren, Sie hätten in einem Motivationsbuch gefunden…

…das muss definitiv Ironie gewesen sein. Ich hab‘ keines gelesen, ich schwör’s.

Der „Stern“ hat sogar eine Titelgeschichte über Motivation an Ihrem Beispiel aufgehängt. „Verblüffend präzise setzt Jürgen Klopp immer wieder eine Technik aus der Psychologie ein, genauer: aus der Psychotherapie.“ Sie seien ein Meister des Reframing.

Keine Ahnung, was das ist.  Wissen Sie’s?

Es geht um die Umdeutung von Situationen. Einer sagt zu Ihnen: Du Idiot, lauf schneller! Sie können dann jammern, oh weh, der macht mich immer fertig. Oder denken: Hey, der liebt mich, der will mich wachrütteln!

Okay.

Die zweite Variante ist wohl Ihr Lebensprinzip. Wenn man mit Freunden und Kollegen von Ihnen spricht, sagen alle: Der Jürgen kennt das Wort negativ gar nicht. Sie sind ein Natur-Reframer.

Das muss wohl so sein.

Kein Coach, kein Psychologe jemals in Ihrem Leben?

Nie.

Sie haben mal gesagt: „Es ist unsere Aufgabe, in unserem Leben glücklich zu sein.“

Ich bin ein gläubiger Christ, ich sehe das Leben als Geschenk. Und wie geht man mit einem Geschenk um? Verantwortungsbewusst. Das fällt nicht immer leicht, manchen Menschen ist es durch die Umstände vielleicht sogar unmöglich. Aber wenn ich mit meinem Leben unglücklich wäre, das wäre ja selten dämlich. Ich empfinde es auch als unsere Aufgabe, den Ort, an dem wir uns aufhalten, ein bisschen besser zu machen als es außenherum der Fall ist. Wenn die Stimmung jetzt hier zwischen uns völlig im Arsch wäre, das ist doch alles verschenkte Lebenszeit. Das will ich nicht.

Und doch ist der Stress hoch. Ihr Trainerkollege Pep Guardiola aus Barcelona fühlt sich ausgelaugt und nimmt eine Auszeit, Ralf Rangnick hatte sich mit Burnout abgemeldet. Da droht Ihnen nichts Gutes.

Ich bin da nicht gefährdet. Mein Lebensglück ist nicht allein vom Erfolg abhängig, und die Zeit, in der eine Niederlage Existenzängste ausgelöst hat, ist Gottseidank vorbei. Ich habe allerdings nicht vergessen, wie schnell ein Trainer in meinem Alter weg sein kann vom Fenster. Entlassung, die Zeitungen schreiben einen Scheiß über dich, viele Trainer kriegen nie wieder einen Job.

Sie meinen tatsächlich, Medien könnten Karrieren kaputt machen? In den Vereinen sitzen doch Fachleute, die Leistung beurteilen können.

Nicht jeder, bei dem Präsident an der Bürotür steht, hat Ahnung, warum er welchen Trainer verpflichtet. Sonst würden viel schlauere Entscheidungen getroffen. Meistens werden Trainer engagiert, bei denen der Präsident sich leicht rechtfertigen kann, wenn‘s schief geht. Ich habe auf Erfahrung gesetzt! Der hatte doch da und dort Erfolg! Solche Leute hätten mir nie eine Chance gegeben. Dass ich ganz gut Trainer kann, wäre mein kleines Geheimnis geblieben, wenn die Mainzer mir nicht vertraut hätten.

Sie erzählten mal, es könne „sich niemand vorstellen, wie ehrgeizig ich bin“. Wie lange sollte Sie Ihre Frau zuhause nicht ansprechen nach einer Pleite?

Man darf mich immer ansprechen, man darf nur nicht immer eine vernünftige Antwort erwarten. Ich war doch als Spieler schlimmer als heute, was die Aggressivität angeht. Ich hatte dieses Endspiel-Denken: Es geht um alles! Und ich hatte richtig Angst davor, dass ich das ins Private rüberziehe, wenn ich mal nicht mehr kicke. Wohin dann mit den Aggressionen? Grätsche ich dann meine Frau von hinten um, ramme ich Sie über den Herd? Ist erfreulicherweise nicht der Fall.

Der Schriftsteller Albert Camus schrieb: „Alles was ich über Moral und Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball.“ Haben Sie etwas Prinzipielles fürs Leben gelernt?

Ja. Ich bin aus gutem Grund Fußballer geworden und nicht Tennisspieler, weil man da mit anderen zusammen Erfolg haben kann und nicht nur alleine. Und eine ganz, ganz wichtige Sache dabei ist: Du musst selbstbewusst sein, sonst wirst du nichts. Du darfst dich trotzdem nicht zu wichtig nehmen, sonst bist du draußen. Diesen schmalen Grat musst du erwischen, Selbstbewusstsein ohne dabei abzuheben – das kriegen nicht alle hin. Das hat mich der Fußball gelehrt, und das gebe ich auch an die Spieler weiter.

Herr Klopp, Sie sind in Stuttgart geboren und im Schwarzwald aufgewachsen. Erstaunlich, man hört gar keinen Dialekt.

Doch, es gibt ein Wort, an dem ich noch ein bisschen arbeiten muss: abseits. Auf schwäbisch sagt man Ab-seits, vorne mit einem kräftigen Ab. Ich muss im Training rufen: Abseiiits, mit Betonung auf dem ei. Sonst gucken die Spieler komisch.

Den Rest des Schwäbischen haben Sie abtrainiert?

Ich hatte von zuhause einen brutalen Dialekt drauf, und als ich mal aus dem Urlaub nach Frankfurt zurückkehrte, erzählte ich eine Anekdote über die große Hitze. „Do schdeigsch vondaweschba un schwidschwid’sau.

Auf Hochdeutsch: Da steigst du von der Vespa und schwitzt heftig.

Die Freunde sahen mich an, als sei ich völlig bescheuert. Da habe ich beschlossen, ab sofort sollen die Leute verstehen, was ich sage.

Zur Startseite