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Spaß am Spiel? Schon die G-Jugend steht unter scharfer Beobachtung: von Eltern, Trainern, Scouts.

© picture-alliance / Norbert Schmi

Jugendfußball: Dribbeln nach Drill

Deutschlands Fußball-Nationalspieler sind derzeit so gut wie nie. Doch die Suche nach immer jüngeren Talenten wird skrupelloser - und verändert den deutschen Jugendfußball.

Um das Spielfeld herum haben sich zum Abschlussmatch der Kinder die Eltern versammelt. Die Trikots flattern den jungen Kickern um die schmalen Leiber, auf dem Stoff am Rücken tragen sie die Namen ihrer Idole. Götze, Özil, Müller, Schweinsteiger. Die Väter beginnen Anweisungen zu rufen und sich aufzuspielen. Die eigentlichen Trainer stehen abseits. Sie kennen das schon. Es wird sehr laut, es wird geschrieen wie beim Boxkampf. Ein Vater brüllt seinen Sohn, fünf Jahre alt, an: „Du weißt wohl nicht, worum es hier geht.“

Willkommen im Fußballparadies Deutschland! Auf diesem Platz eines Berliner Traditionsvereins wird die fußballerische Zukunft getestet. Was hier und anderswo passiert, ist, etwas zugespitzt, der Beginn eines Wegs, der den deutschen Fußball wieder an die Weltspitze geführt hat. Das kleine Abschlussspiel ist das Ende eines üblichen Sichtungstrainings, wie es tausendfach im Land durchgeführt wird. Das Spiel entscheidet nicht darüber, wer in den Verein kommt. Das denken nur die Eltern. Es geht um Motorik, Spielfreude, Sozialverhalten.

Wer in den großen Städten in einen guten Verein will, der muss in die Sichtung. Bei den Kleinsten, den Vier- bis Sechsjährigen, der G-Jugend, ist der Andrang am größten. 50 bis 200 Kinder tummeln sich vor den Trainern, für 15 Plätze, denn im Kleinfeldbereich wird mit sechs Feldspielern plus Torwart gekickt.

Diese Sichtung ist nicht das einzige Instrument einer akribischen Rasterfahndung nach den Talenten dieser Republik. Die Suche beginnt bei den Kleinsten, und am Ende findet man im Idealfall so großartige Spieler wie Mario Götze, Thomas Müller oder Mesut Özil. Fußballerisch sind wir in Deutschland wieder wer! Das ist für den Sport und seine Fans eine beglückende Wahrheit. Aber wie bei jeder Erfolgsstory gibt es Schattenseiten. Diese Suche hat den Jugendfußball verändert und Maßstäbe verrückt, Spaß und Verantwortung sind ins Hintertreffen geraten. Abgründe haben sich aufgetan, die der normalen Öffentlichkeit verborgen bleiben. Und manche in der Branche kommen ins Grübeln, ob der Preis zu hoch sein könnte. Schließlich geht es um Kinder.

Stefan Brandenburger, 49, erlebt diese Abgründe wöchentlich. Er hört Eltern, die Trainer beschimpfen, erlebt Väter, die Schiedsrichter angreifen, kennt Jugendtrainer, die Titel holen müssen für den Verein. „Der Druck auf die Kinder wächst ständig“, sagt Brandenburger. Er war selbst ein guter Fußballer, zweite Liga, elegant, technisch versiert, hätte mehr aus ihm werden können. Er war Finanzbeamter, Immobilienhändler und ein so guter Jugendtrainer, dass er nun einem anderen Beruf nachgeht: Scout, ein Talentspäher, angestellt beim FC Bayern München, dem Klub, der noch immer das Beste ist, was der deutsche Fußball zu bieten hat. Brandenburger ist ein Rädchen in der Fahndungsmaschine, er scoutet im Jugendbereich, bis hinunter in die E-Jugend, das sind die Sechs- bis Achtjährigen, und schreibt Entwicklungsprofile. Der FC Bayern aber hat ein Prinzip: „Wir holen Talente erst, wenn sie 16 werden“, sagt er.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie schon in der U7 kein Platz sicher ist.

In jedem Jahrgang gibt es in den großen Vereinen bis in die Regionalliga meist nur ein Team: eine Leistungsmannschaft; die jüngste nennt sich U7, die Mannschaft der unter Siebenjährigen. Wer hier einen Platz bekommt, hat ihn nie sicher, denn im nächsten Jahr wird wieder gesichtet. In kleinen Vereinen ist es für Kinder nicht so schlimm rauszufliegen, dort gibt es untere Mannschaften, wo sie nur zum Spaß spielen können. Aber diesen Vereinen fehlen oft die Trainer für mehrere Teams. Das ist der Grund, warum in Berlin Kinder oft gar nicht in einen Verein reinkommen.

Als Brandenburger selbst in der Jugend spielte, trainierte sein Team von Blau- Weiß 90, B-Jugend, 14 bis 16 Jahre, zwei- bis dreimal in der Woche. Sie wurden Deutscher Meister. Heutzutage trainieren schon die Achtjährigen drei Mal die Woche. Eine Erklärung, warum die Spieler heute besser sind, lautet demnach: Sie trainieren mehr und intensiver. Eine andere besagt: Sie trainieren individueller und gezielter. Allein Passgeschwindigkeit und Passgenauigkeit sind um Welten besser als zu Brandenburgers Zeiten. Der Scout glaubt, dass die Profis der Zukunft nur noch bis 28, 29 Jahre auf Top-Niveau spielen können, „gerade weil sie immer früher ein Top-Niveau erreichen und früher Profis werden“.

Der wichtigste Grund aber, warum es heute mehr Talente gibt, lautet: Sie werden entdeckt und zwar früh!

Als Brandenburger kickte, spielte auch ein gewisser Thomas Häßler, der 1990 Weltmeister wurde. Bis 17 spielte Häßler bei einem Verein, den niemand außerhalb West-Berlins kannte: Meteor 06. Häßler wechselte dann für ein Mountainbike zu den Reinickendorfer Füchsen und ging von dort zum 1. FC Köln. Heute würde ein Talent wie Häßler niemals so lange unentdeckt bleiben.

Um zu verstehen, wie sehr sich Ausbildung und Sichtung revolutioniert haben, muss man ins Jahr 2000 zurückblicken. Deutschland flog unter Trainer Erich Ribbeck bei der EM in der Vorrunde raus („Konzepte sind Kokolores“), der Höhepunkt deutschen Rumpelfußballs war erreicht. Das Aus führte zur Revolution. Und jetzt, 2011, feiert der deutsche Fußball ein erstaunliches, zehnjähriges Jubiläum: die Erfindung der Leistungszentren, Fußballakademien im Profibereich und den Ausbau der Leistungsstützpunkte.

Eine gigantische Erfolgsgeschichte.

Die Rasterfahndung ist keine Worthülse, sie ist real. Auf Verbandsebene, auf Klubebene und auf der Ebene der Spieleragenturen, die mit den Talenten Geld verdienen. Zurzeit arbeiten rund 30 Verbandstrainer an 366 Stützpunkten überall in Deutschland daran, die besten Spieler ihrer Jahrgänge ausfindig zu machen. Ab der E-Jugend geht es auf Verbandsebene los. Die Stützpunkt-Koordinatoren veranstalten regelmäßig Sichtungsturniere. Die Stärken und Profile der Kinder werden aufgezeichnet und in riesige Datenbanken eingegeben. Es ist ein Heer unbekannter Hoffnungsträger.

Lesen Sie auf Seite drei, wie es schon im Jugendfußball um Wertschöpfung geht.

Dabei geht es nicht um die Besten, sondern um diejenigen, die die Besten werden können.

2001 verpflichtete der DFB alle Profiklubs, Fußballakademien zu gründen, wo der Nachwuchs meist ab 14 Jahren lebt, auf eine Schule geht, mit der der Verein kooperiert, und ansonsten Fußball spielt. Ohne Akademie keine Lizenz. Regelmäßig kommt im Auftrag des DFB eine belgische Firma namens „Double Pass“ und zertifiziert die Leistungszentren. Immer mehr Vereine schließen sich diesem Zertifizierungsverfahren auch außerhalb der Profiklubs an. Es geht um Wertschöpfung.

Bayer Leverkusen sagt selbstbewusst von sich: „Wir kennen alle talentierten Spieler bereits nach der E-Jugend. Bei den Kleinsten schauen wir bis zu 3000 Mannschaften an.“

Jeder Verein mit Leistungszentrum darf Förderverträge mit Spielern abschließen, im Moment ab der C-Jugend. Wenn ein anderer Verein den Spieler haben will, muss er, wie im Profibereich auch, eine Ablösesumme zahlen. Nur wer Förderverträge abschließt, kann davon profitieren. Der DFB gibt vor, dass die Vereine 250 Euro plus Sozialabgaben an die Auszubildenden zahlen müssen. Große Klubs können das, kleine haben zu wenig Geld für viele Förderverträge. Die Großen werden immer die Sieger sein. Jetzt überlegt die Branche, ob der DFB nicht schon früher Förderverträge erlauben sollte, ab der D-Jugend: für Zehn- bis Zwölfjährige.

Einer, der aus der großen Masse hervorstach, ist Stefan Brandenburgers Sohn. Noch lange bevor der Vater beim FC Bayern unterschrieb, klingelte bei ihm mehrfach das Telefon, verschiedene Vertreter von Bundesliga-Klubs waren am Apparat. Sein Sohn konnte auswählen zwischen seinem Heimatverein Hertha BSC, dem VfL Wolfsburg oder anderen guten Erstligisten. Er entschied sich für Borussia Mönchengladbach. Brandenburger und seine Frau hatten Bauchschmerzen, Gladbach ist weit weg von Berlin, wo sie wohnen. Sie haben sich Sorgen gemacht, als Eltern, und weil er als Scout das Geschäft kennt. Sie ließen ihren Sohn entscheiden, und der wollte gehen. Er war knapp 15.

Am Telefon sagt Nico Brandenburger: „Wenn meine Mutter damals nicht mitgegangen wäre, hätte ich es nie gemacht.“

Heute ist er Kapitän in der U17, er hat sich in einem Kader von 29 Spielern durchgesetzt. Bis auf Dienstag trainiert er jeden Tag, natürlich ist sein Ziel die Bundesliga. Er denkt an nichts anderes, weil zurzeit nichts anderes Thema ist. So einfach ist das. Es belaste ihn nicht. Über Druck oder Angst, sagt Nico Brandenburger, spreche man innerhalb der Gruppe nie. Er spricht mit seiner Mutter.

Lesen Sie auf Seite vier, wie Stefan Brandenburger bei Hertha 03 auf Talentsuche geht.

An einem Freitagabend im August sitzt Stefan Brandenburger auf der Tribüne von Hertha 03 Zehlendorf und notiert hin und wieder etwas in seinen kleinen Block. Hertha 03 empfängt in der B-Jugend-Bundesliga den VfL Wolfsburg. Die Berliner haben keine Chance, Brandenburger interessiert sich eher für die Gäste. Zwei Spieler hat er auf seiner Liste, weil sie „handlungsschnell“ und „torgefährlich“ sind. Als er geht, zeigt er auf einige andere Herren, die stumm an ihm vorbeigehen: „Die sind auch nicht zum Spaß hier.“

Er empfiehlt nur Spieler, von denen er überzeugt ist, dass sie Profi werden können. Brandenburger selbst hat keinen Druck, Bayern München hat es nicht nötig, Druck auf seine Scouts auszuüben. Man legt Wert auf Etikette. Brandenburger spricht keine Spieler direkt an, er geht nicht in die Kabinen, er verspricht den Jugendlichen nicht die Erfüllung ihrer Träume. Das Problem: Er gehört zu den Ausnahmen. In der Regel werden die Kinder heute schon zwischen 10 und 12 Jahren angesprochen. „Es wird immer normaler, dass die Berater haben“, sagt er.

Auf dem Münchner Flughafen in der Lufthansa Lounge sitzt Matthias Sammer und grübelt. Diese Berater machten auch ihm „größte Sorgen“, aber man habe kaum eine rechtliche Handhabe. Sammer gehört zu den Menschen, die als Spieler und Trainer viel erreicht haben. Man kennt ihn als strengen Verfechter von Siegermentalität und der Forderung, man müsse endlich Titel holen. Er will für die Weltspitze ausbilden, auch im Jugendbereich. Aber wann anfangen? Sammer sagt: „Siegermentalität hat etwas mit den richtigen Maßnahmen zu tun. Einen kleinen Achtjährigen im Spiel nicht zu bringen, aus Angst, man könnte verlieren, ist falsch. Den Kleinen bringen und ihm sagen, geh raus, gib dein Bestes, du kannst das, das ist Motivieren. Das ist die richtige Maßnahme, um Siegermentalität auszubilden.“

Mit seinem Assistenten Karsten Schumann hat Sammer ein Konzept geschrieben: „Der weite Weg“. Schumann gehört die Management-Firma „Elite. Gesellschaft für leistungsorientierte Führung“. Das Konzept startet in der Kita. Sammer sagt: „Der Weg, den wir beschreiben, beginnt mit drei Jahren. Wir nennen ihn bewusst den weiten Weg. Es geht um alters- und entwicklungsgerechten Leistungsaufbau. Der eigentliche Leistungssport beginnt für uns erst ab der C-Jugend. Der Weg an sich muss aber möglichst geschlossen bleiben, wenn er in die Weltspitze führen soll.“ Sammer redet wie ein Missionar, der einen idealen Sport-Menschen im Kopf hat. In Sammers Worten hört sich das so an: „Wir wollen den guten Menschen ausbilden, nicht nur den guten Fußballer. Der gute Mensch ist charakterstark, verantwortungsbewusst, zielstrebig, fair, und er erkennt: Wenn es im Fußball nicht weitergeht, gibt es in meinem Leben Alternativen.“

Lesen Sie auf Seite fünf was ein alter Hase im Trainergeschäft sagt.

Adolf Remy, 72, war über 30 Jahre im Trainergeschäft, ein alter Hase, unterwegs auf vielen Kontinenten. Jetzt sitzt er in einem Café in Schöneberg und findet die Ansichten eines Sammer „zu kalt, ohne Wärme und Zuneigung für die Jungs“. Er klagt: „Die jungen Spieler werden oft wie Ware behandelt. Sie spielen bis zur A-Jugend in den Leistungsteams und in den Nationalmannschaften. Und dann werden sie fallen gelassen, wenn sie es nicht für den Männerbereich bringen.“

Remy kommt aus einer Zeit, als Schicksale von Spielern wie Sebastian Deisler oder Robert Enke der Öffentlichkeit noch unbekannt waren. Depression und Tod gehörten damals nicht hinein in die heile Fußballwelt von den elf Freunden, und auch heute wird der schöne Schein nur kurz überschattet, wenn sich Spieler oder Trainer wie jüngst Ralf Rangnick outen, weil sie ausgebrannt sind. Aber Remy hat die Seiten gewechselt, nach seiner Laufbahn hat er sich von einem einflussreichen Spielerberater überreden lassen, für dessen Agentur zu arbeiten. Remy stellte Regeln auf, ähnlich wie beim FC Bayern, die, wie er sagt, von Anstand und Sitte geprägt seien, und holte für seinen Chef junge Talente. Spieler wie Jerome Boateng oder Sami Khedira. Remy sagt, er habe aktuell zehn bis zwölf Jugendliche auf seiner Liste, die es schaffen können. Er ist ein honoriger Herr, der Pfefferminztee trinkt, für seinen Auftraggeber ist Remys Instinkt, der ganz ohne Laptop und Datenbank auskommt, eine Goldgrube.

Wenn heute die U15-Auswahl eines Bundeslandes antritt, tummeln sich über 200 Leute auf den Tribünen, die entweder aus den Scoutingabteilungen der Vereine oder aus den Spieleragenturen kommen. Auf den großen Sichtungsturnieren des DFB geht es längst zu wie auf einem riesigen internationalen Basar. Remy spricht von einem „skrupellosen Geschäft“ und von „Drückerkolonnen“. Die Branche gehe auf immer jüngere Kinder los, „aus Angst, ein Talent zu verpassen“. Es gibt große Talente, die heute arbeitslos sind, nicht wenige. Sammers Siegermentalität habe ihnen nicht gefehlt, findet Remy, sie sind nur einfach durch den Rost gefallen. So ist das eben im Leistungssport.

Aber es liegt auch am System: Der DFB verlangt von seinen Klubs, dass sie mit Zwanziger-Kadern ihre Leistungsteams bestücken, von der U15 bis zur U19. Wer da mithalten will, braucht ständig neue gute Spieler. Es geht dann nicht mehr darum, für den Männerbereich auszubilden, sondern, wie ein Berater sagt, „sich Material auf Zeit zu besorgen“. Das sind oft Jugendliche, die wenig Chancen haben, Profi zu werden. Der Berater kassiert seine Provision, und wenn die Spieler aus dem entsprechenden Alter heraus sind, werden sie wieder „abgestoßen“.

Der Fußball ist rund und schön, und jede Woche können die Deutschen sich aufs Neue freuen, dass ihre Talente das Land wieder stolz gemacht haben.

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