zum Hauptinhalt

Sport: Jung + alt = gut

Brinker und Chusovitina überzeugen bei Turn-EM

Es gibt zur Zeit keinen Athleten, der das deutsche Turnen so prägt wie Fabian Hambüchen. Im Schatten des Wetzlarers, der gestern um die EM-Goldmedaille im Mehrkampf turnte (Wettkampf war bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht beendet), tut sich aber etwas: Eine Turn-Oma, ein Nachwuchstalent und ein verlorener Sohn schreiben die etwas anderen Geschichten der Titelkämpfe von Amsterdam. Von Ferne betrachtet gibt es kaum Unterschiede zwischen den beiden Turnerinnen: Hier Anja Brinker, 1,52 Meter klein, 39 Kilo leicht – dort Oksana Chusovitina, 1,53 Meter klein, 43 Kilo leicht. Sie sehen aus, wie Turnerinnen eben aussehen: Klein, athletisch, energiegeladen. Kommt man den beiden näher, stellt man fest, dass hier zwei Turngenerationen zusammen einen EM-Mehrkampf bestritten haben: Anja Brinker aus Herkenrath ist 16 Jahre alt und Schülerin, die aus Usbekistan stammende Oksana Chusovitina, ist 31 Jahre alt, Mutter und die erfahrenste aktive Turnerin der Welt. „Turn-Oma“ wird die Kölnerin deshalb manchmal genannt, was nicht respektlos gemeint ist.

Für Anja Brinker ist die Athletin, die beinahe ihre Mutter sein könnte, eine wichtige Ratgeberin. „Man kann sich unheimlich viel bei ihr abschauen“, sagt das Mädchen mit der Zahnspange, „zum Beispiel wie man in bestimmten Situationen die Ruhe bewahrt.“ Beim gestrigen EM-Mehrkampf trat so eine Situation schneller ein, als Anja Brinker lieb war: Gleich beim ersten Gerät (Schwebebalken) patzte die 16-Jährige schwer. Weil sie ruhig blieb, fand sie in den Wettkampf zurück und kämpfte sich noch auf Platz zehn vor. Oksana Chusovitina turnte derweil kontrolliert ihr Programm und zeigte erst am Ende Nerven: Auch sie fiel vom Balken, schaffte aber trotzdem ein starken sechsten Platz. „Zwei Turnerinnen unter den ersten zehn, das ist mehr als wir erwartet hatten“, sagte Chef-Bundestrainerin Ulla Koch.

In der Geschichte von der Rückkehr des verlorenen Sohns spielt Matthias Fahrig aus Wittenberg die Hauptrolle. Der Sohn einer Deutschen und eines Kubaners ist nicht nur extrem sprunggewaltig, sondern auch ein bisschen sprunghaft. Den dunkelsten Tag seiner Sportlerkarriere hatte er Ende 2005 erlebt, als er vom Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch aus disziplinarischen Gründen aus dem Bundeskader gestrichen wurde. Zuvor bei der WM in Melbourne hatte sich Fahrig einige Eskapaden erlaubt, Alkohol war im Spiel – und auch sonst hatte der damals 19-Jährige keine große Lust mehr, so intensiv zu trainieren. „Melbourne war nur das Tüpfelchen auf dem i“, sagt Fahrig heute, „ich hatte einfach riesige Motivationsprobleme.“

Die schöpferische Pause hat Fahrig gut getan. „Ich habe gemerkt, dass ich mit Turnen noch nicht fertig bin“, sagt er. Dass Fahrig am Boden und Sprung internationale Klasse hat, war schon vorher klar. Jetzt bringt er auch die nötige mentale Stärke mit. An beiden Geräten steht der Turner des SV Halle im heutigen EM-Finale, womit er sogar einen Geräte-Endkampf mehr erreicht hat als Fabian Hambüchen, der neben dem Mehrkampffinale nur das Reckfinale erreicht hat. So hat sich Fahrigs vorübergehende Suspendierung im Nachhinein als gelungene pädagogische Maßnahme von Cheftrainer Hirsch erwiesen, der darüber aber nur noch wenig Worte verliert. Dafür spricht Fahrig: „Diese Zwangspause war völlig berechtigt und ein guter Ansporn für mich.“

Dass ihm Hirsch Ende 2006 eine erneute Chance einräumte und ihn beim Weltcup in Glasgow starten ließ, zahlte Fahrig mit ersten Plätzen an Boden und Sprung zurück, worauf ihn der Cheftrainer sogar zum Weltcup-Finale nach Sao Paolo mitnahm, wo er ebenfalls punktete (2. Sprung, 5. Reck, 7. Boden). „Da habe ich die Chance gesehen, international etwas zu erreichen und mich voll reingekniet“, sagt Fahrig, der heute in Amsterdam frei aufturnen kann, „ich habe nüscht zu verlieren.“ Aber etwas zu gewinnen: nämlich die erste große Medaille seiner Turnerkarriere.

Jürgen Roos[Amsterdam]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false