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Bisher teilte der DFB mit, Reus werde vorsichtshalber geschont. Nun zweifeln die Ärzte offenbar seine Belastbarbeit für das EM-Turnier an.

© dpa

Kader für die EM 2016: Marco Reus - der Zuschauer der Nation

Marco Reus wird zur tragischen Figur: Nach den WM-Turnieren 2010 und 2014 verpasst der Dortmunder nun auch die Europameisterschaft in Frankreich.

Marco Reus ist in den vergangenen Wochen häufiger über die Grenze nach Holland gefahren. Einmal wöchentlich hat er sich bei dem Osteopathen Hub Westhovens behandeln lassen, um seine chronisch auftretenden Adduktorenprobleme in den Griff zu bekommen. Und das auch mit einigem Erfolg. Doch in den kommenden Wochen werden der deutsche Fußball-Nationalspieler und der Mediziner aus Holland ein gemeinsames Schicksal teilen: Sie werden die Europameisterschaft in Frankreich nur als Zuschauer erleben.

Ausgerechnet an seinem 27. Geburtstag wurde der Dortmunder Marco Reus von Bundestrainer Joachim Löw aus dem endgültigen EM-Kader gestrichen. Außerdem erwischte es die beiden Leverkusener Julian Brandt und Karim Bellarabi sowie Sebastian Rudy von der TSG Hoffenheim.

Während bei Brandt, Rudy und Bellarabi durchaus nachvollziehbare sportliche Gründe vorliegen, war im Fall Reus laut Bundestrainer Löw allein die medizinische Diagnose ausschlaggebend. „Marco hat massive gesundheitliche Probleme. Im Moment kann er nur geradeaus laufen“, sagte Löw. Reus hat im Tessin kein einziges Mal mit der Mannschaft trainiert. Die Ärzte seien „sehr, sehr skeptisch, dass er bei diesem zehrenden Turnier voll belastbar ist“. Zu Beginn der Vorbereitung hatte sich das alles noch ganz anders angehört. Der Bundestrainer hatte lediglich von einer Vorsichtsmaßnahme gesprochen, nachdem Reus nach dem verlorenen Pokalfinale mit Borussia Dortmund wieder über Adduktorenprobleme geklagt hatte und mit dem Training aussetzen musste. Reus selbst wollte in dieser Woche wieder ins Mannschaftstraining einsteigen. Insofern kam die Nachricht von seinem EM-Aus einigermaßen überraschend.

Rund um die Nationalmannschaft ist schon immer ein gewisser Hang zur Dramatisierung festzustellen. Gerade aus dem inneren Kreis des Teams wird den begleitenden Journalisten vorgeworfen, dass sie zur Hysterie neigten; auf der anderen Seite werden gravierende Verletzungen vom DFB offensichtlich zu einer vermeintlichen Lappalie heruntermoderiert. Auch bei Reus’ Dortmunder Kollegen Mats Hummels war anfangs nur von einem kleinen Muskelfaserriss die Rede und ein paar Tagen Pause. Inzwischen hat der Innenverteidiger selbst zugegeben, dass es für den Turnierstart am 12. Juni gegen die Ukraine wohl nicht reichen werde. Trotzdem gehört Hummels dem endgültigen Kader ebenso an wie Kapitän Bastian Schweinsteiger.

Dass es stattdessen erneut Marco Reus erwischt hat, besitzt schon eine gewisse Tragik. „Es war eine bittere Entscheidung und eine Enttäuschung für uns alle“, sagte Joachim Löw. Die größte Enttäuschung war es wohl vor allem für Reus selbst, auch wenn Sami Khedira berichtete, dass der Dortmunder auf ihn sehr gefasst gewirkt habe. „Ich bin überzeugt davon, dass er noch seine Chance bekommen wird auf großer Bühne“, sagte Khedira.

Reus besitzt nur 125 Minuten Turniererfahrung

Bisher musste Reus diese große Bühne immer anderen überlassen. Nach dem siegreichen WM-Finale im Maracana hielt sein Kumpel Mario Götze demonstrativ sein Trikot mit der Nummer 21 in die Kameras. Reus selbst hatte das Endspiel als Rehapatient in Deutschland verfolgt, nachdem ihn beim letzten Testspiel vor dem Turnier, einen Tag vor dem Abflug nach Brasilien, ein armenischer Gegenspieler am Knöchel getroffen hatte. Die Diagnose: Syndesmosebandriss und WM-Aus.

Marco Reus ist ohne Zweifel einer der besten deutschen Fußballer der Jetztzeit. In 205 Bundesligaspielen für Borussia Mönchengladbach und den BVB hat er 85 Tore erzielt und 56 Vorlagen gegeben – die Verbindung mit der Nationalmannschaft aber war von Beginn an nicht gerade vom Schicksal begünstigt. Schon 2010, kurz vor der WM in Südafrika, hatte Löw ihn erstmals für ein Länderspiel nominiert. Eine Muskelverhärtung im Oberschenkel verhinderte seinen Einsatz. Erst 17 Monate später und nachdem er insgesamt vier Mal verletzungs- oder krankheitsbedingt hatte absagen müssen, durfte Reus schließlich sein Debüt für die Nationalmannschaft geben.

Mit jetzt 27 Jahren, im sogenannten besten Fußballeralter also, kommt der Dortmunder auf gerade 125 Minuten Turniererfahrung. Bei der EM 2012 durfte nur im Viertelfinale gegen Griechenland von Anfang an spielen. Er erzielte sogar ein Tor, musste im Halbfinale gegen Italien aber erst einmal wieder zurück auf die Bank – obwohl Reus in jenem Jahr zu Deutschlands Fußballer des Jahres gewählt worden war.

Draxler, Schürrle und Podolski dürfen nun auf einen Stammplatz hoffen

So droht seine Karriere in der Nationalmannschaft eine unvollendete zu bleiben. So wie es auch bei Mehmet Scholl war, der nie an einer WM-Endrunde teilgenommen hat. Oder bei Sebastian Deisler, der um die Jahrtausendwende als größtes Talent des deutschen Fußballs galt und die Weltmeisterschaften 2002 und 2006 ebenfalls wegen Verletzungen verpasste.

Neben seinem Dortmunder Kollegen Ilkay Gündogan ist Reus der zweite potenzielle Stammspieler, auf den Joachim Löw in Frankreich verzichten muss. „Ein Marco Reus in einer sehr guten Form, gesund und fit, wäre natürlich für unsere Mannschaft eine enorme Bereicherung“, sagte der Bundestrainer.

Julian Draxler, André Schürrle und Lukas Podolski sind die Spieler im endgültigen EM-Kader, die wie Reus auf der Position im linken offensiven Mittelfeld zu Hause sind und als mögliche Vertreter in Frage kommen. Bis Dienstagmittag noch durfte sich keiner von ihnen echte Hoffnungen auf einen Stammplatz bei der EM machen.

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