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Sport: Kampf den Kuschelnoten

Wie das Turnen versucht, ein objektives Bewertungssystem einzuführen

Wo Menschen sportliche Leistungen bewerten, passieren Fehler. Auch bei der gestern begonnenen Turn-WM in Stuttgart. „Das Turnen hat sich rasant entwickelt“, sagt Slava Corn, die Vizepräsidentin des Weltturnverbandes FIG, „es wird viel schneller geturnt, viel komplizierter. Da ist es ganz schwer für das menschliche Auge zu folgen, und für den Kampfrichter zu werten.“ Bei Olympia 2004 wurde das Problem augenfällig, als beim Reckfinale mehr als zehn Minuten lang unter den Pfiffen der Zuschauer „bewertet“ wurde, dann erst stand die Medaillenvergabe fest. Viele sprachen von einem Skandal. Der IOC-Präsident Jacques Rogge drohte öffentlich mit einer Beschneidung des Turnens als olympischer Kernsportart. Die FIG musste reagieren.

Und zwar zunächst technisch: FIG-Präsident Bruno Grandi drückte ein neues Wertungssystem durch, bei dem die Traumnote 10,0 durch nach oben offene Wertungen ersetzt wurde, die sich nun aus A- (Schwierigkeit) und B-Note (Ausführung) zusammensetzen. Gleichzeitig ließ der Weltverband ein Videokontrollsystem entwickeln, das „die Kampfrichter unterstützt, um den Athleten gerecht zu werden“, wie es Slava Corn ausdrückt. „Natürlich dient das System dazu, die Kampfrichter zu kontrollieren“, sagt Adrian Stoica, der Vorsitzende des Technischen Komitees der Männer und Welt-Oberkampfrichter. Dieses System, Ircos genannt, besteht aus acht Videokameras und 40 Computer. Für die Fairness der Notengebung ist Ircos ein Fortschritt: Sind sich die Kampfrichter nicht einig, kann nachgeschaut werden. Sind die Turner und Trainer unzufrieden, ebenfalls. Allerdings müssen die Protestierenden 200 Dollar pro Nachfrage bezahlen, um Missbrauch zu vermeiden. So weit, so gut.

Die FIG-Oberen sind sich aber offenbar ziemlich klar darüber, dass es weiterhin Kampfrichter gibt, die falsch oder tendenziell werten. Nach Athen wurden vier der Richter aus ihrem Amt entfernt und die Kontrollen verschärft. Dennoch klagte FIG-Präsident Grandi noch während der WM 2006 darüber, dass es immer noch zu viele Unparteiische gebe, die nach dem Motto urteilten: Geb’ ich deinem Turner Punkte, gibst du meinem Turner Punkte. Suspendierungen gab es offiziell zwar keine mehr, aber fast zehn Verwarnungen. Dass die FIG nicht über die Zahlen spricht, zeigt, wie brisant das Thema immer noch ist. Der Weltverband möchte den Kampfrichtern nicht zu sehr zusetzen, den Druck aber so erhöhen, dass sich einzelne zwei Mal überlegen, ob sie nun den richtigen oder den falschen Knopf drücken. Früher wurden bei einer Großveranstaltung wie der WM nur zwei Ersatzkampfrichter benannt, heute sind es sechs. Subtext: Jeder ist ersetzbar.

„Gerade jetzt im Jahr vor Peking steigt die Anspannung“, sagt Jörg Fetzer, der bei der WM in Stuttgart am Reck für die Bestimmung der A-Note zuständig ist. Der Leipziger hat beobachtet, „dass einige Kollegen diesem Druck nicht gewachsen sind und sagen: Ich höre freiwillig auf“.

Es stellt sich die Frage, warum die Turn-Kampfrichter überhaupt unter einen derartig großen Druck geraten. „Weil wir zwischen Baum und Borke hängen“, sagt Jörg Fetzer. Auf der einen Seite steht der nationale Verband, der noch immer die Kosten für die eigenen Kampfrichter trägt und „irgendwie schon erwartet, dass ich nicht gegen das eigene Land werte“ (Fetzer). Auf der anderen Seite steht die FIG, die von ihren Kampfrichtern absolute Integrität erwartet. „Mein Vorschlag wäre, dass die FIG ähnlich wie beim Tennis einen Pool professioneller Kampfrichter bildet, die dann je nach Leistung auf- oder abgestuft werden“, sagt Fetzer. Doch Turnen ist nicht Tennis und hat nur einen Bruchteil der finanziellen Mittel zur Verfügung. Wer nun allerdings den Gedanken äußert, dies sei ein idealer Nährboden für Gefälligkeiten der besonderen Art, der bekommt schnell keine Antworten mehr. Eine Insiderin, die erwartungsgemäß anonym bleiben möchte, sagt nur so viel: „Bestechung hat es gegeben. Früher, als noch nicht so viel kontrolliert wurde.“

Jürgen Roos[Stuttgart]

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