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Sport: Karambolage der Lebensmüden

„Die Fahrer riskieren alles für sehr wenig“, sagt Ex-Radprofi Jalabert – das Sprinten gab er auf

Plötzlich hatte Marcel Wüst einen Kloß im Hals. Als der Sprint der ersten Etappe der Tour de France fünf Kilometer vor dem Ziel in Meaux in seine heiße Phase ging, war der frühere Spurter wehmütig geworden, gerne hätte er wieder im Sattel gesessen und sich um den Tagessieg gebalgt. Als dann 350 Meter vor dem Ziel der Spanier Jose Enrique Gutierrez mit 70 km/h in ein Absperrgitter rauschte und die hinter ihm rasenden Fahrer wie von einem Katapult geschleudert durch die Luft flogen, war Wüst froh, dass er dort saß, wo er saß: vor dem Fernseher. Fatal erinnerten Wüst die Bilder an den Sturz, der ihn vor zwei Jahren das Licht des linken Auges und beinahe das Leben gekostet hatte.

Vor dem Fernseher hätte auch Olaf Pollack lieber gesessen. Der Sprinter vom Team Gerolsteiner hatte sich seine erste Etappe bei der Tour de France anders vorgestellt. Kreidebleich war Pollack, als er mit einer Viertelstunde Verspätung am Mannschaftsbus ankam, wie ein Rekrut nach seinem ersten Gefecht.

Er selbst hatte einen schweren Sturz gerade noch vermeiden können, war geschickt um die Karambolage herum gesteuert. Den Anschluss hatte er dadurch verloren, aber das war ihm zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr wichtig. Der Eindruck von blutenden, sich windenden Kollegen auf dem Asphalt, zum Teil mit schweren Verletzungen hatte Pollacks sportlichen Ehrgeiz erst einmal verdrängt. Pollack gab sein Rad an seinen ebenfalls gestürzten Kapitän Davide Rebellin weiter und trug dessen demolierte Rennmaschine zu Fuß ins Ziel.

Marcel Wüst sah am Verlauf der Etappe nichts Außergewöhnliches: „Das kann immer und überall passieren.“ Allerdings bestätigte er, dass die Fahrer bei großen Rundfahrten wie der Tour de France ein viel höheres Risiko eingehen: „Wenn sich etwa bei der Deutschland-Rundfahrt eine Lücke auftut, überlegt man vielleicht, ob man da reinhält“, wie es im Rennfahrerjargon heißt. Soll heißen: Wenn sich zwischen zwei Fahrern vor einem ein Spalt von ein paar Zentimetern ergibt, denke man bei weniger bedeutenden Wettbewerben eher darüber nach, ob man sich mit 70 Stundenkilometern da durchzwängt. „Aber bei der Tour denkt man nicht nach“, sagte Wüst. Mit einer spektakulären Aktion oder gar einem Tagessieg kann ein Rennfahrer seiner Karriere eine bedeutende Wendung geben. Für die Fahrer, die nicht um den Gesamtsieg fahren – und das sind die meisten – steht jeden Tag alles auf dem Spiel.

Laurent Jalabert fand, „die Fahrer riskieren alles für sehr wenig“. Jalabert, der sich einst bei einem Sturz im Sprint zwei Wirbel gebrochen und daraufhin das Sprinten aufgegeben hatte, kritisierte die Streckenführung mit einer scharfen Kurve vor dem Ziel. „Es gab keinen Ausweg. Solche Kurven helfen niemandem.“

In den ersten Tagen der Rundfahrt suchen viele Fahrer ihre Chance auf der Zielgeraden, die sonst nicht zu den Sprintern zählen. Erik Zabel glaubt, dass die Fahrer bei der Tour deutlich nervöser geworden sind. Schon Stunden vor der Zielankunft stritten sich Dutzende von Fahrern um die beste Ausgangsposition für einen Sprint: Alle haben Angst, dass sie in dem Moment, in dem die entscheidende Attacke, der entscheidende Antritt kommt, eingeklemmt oder abgeschlagen sind. „Viele mischen in der Schlacht mit, weil sie ihre Möglichkeiten und Chancen völlig überschätzen“, sagte Jalabert. Olaf Pollack hat seine Lehre gezogen. „Ich bin nicht lebensmüde“, urteilte er. Viel gelernt habe er an diesem Tag, vor allem aber eines: dass ihm ein Tagessieg nicht Leib und Leben wert sei.

Reiner Guareschil

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