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Sport: Keirin: Wenn 15 Zentimeter fehlen

So mögen sie nun am Donnerstag in Sydney die Medaillengewinner gefunden und geehrt haben - im großen Stil gewonnen haben längst andere in Tokio. Im vornehmen Geschäftsviertel Minato-ku, wo auch zahllose andere Firmen ihren Verwaltungssitz haben, durften mehrere hundert Mitarbeiter der japanischen Keirin-Association Ende 1996 einen bahnbrechenden Triumph feiern.

So mögen sie nun am Donnerstag in Sydney die Medaillengewinner gefunden und geehrt haben - im großen Stil gewonnen haben längst andere in Tokio. Im vornehmen Geschäftsviertel Minato-ku, wo auch zahllose andere Firmen ihren Verwaltungssitz haben, durften mehrere hundert Mitarbeiter der japanischen Keirin-Association Ende 1996 einen bahnbrechenden Triumph feiern. Nach ebenso langjährigen wie landesüblich dezenten Kampagnen hatte es der Dachverband des populären Bahnradsports geschafft, die turbulente Sprint-Disziplin ins olympische Programm zu hieven. Die hohen Herren vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) hatten ihrem Antrag in Lausanne zugestimmt, und damit war international salonfähig geworden, was zwischen Hokkaido und Kyushu so vorbehalten rezipiert wird wie im Westen etwa das Profiboxen. Ein kleiner Schritt für das IOC, könnte man sagen - und ein großer für eine riesige, aber um neues Renommee bemühte Sportindustrie.

Im Land des Hechelns nämlich ist Keirin ein ganzjähriges, volkstümliches Wettvergnügen. Rund 28 Milliarden Mark geben japanische Zocker umgerechnet pro Jahr aus, um bei den mehrtägigen Wettbewerben an insgesamt 50 überwiegend hochmodernen Bahnen im Land auf das Resultat zu spekulieren. Siegerwette, Einlaufwette - was immer man vom Pferdesport kennt, haben Nippons Wettverrückte umstandslos auf die Konkurrenten des körperbetonten Sprints im neunköpfigen Feld - und übrigens auch auf professionelle Motorbootfahrer - übertragen. Das ermöglicht über 4000 Profis, die sich in neun Leistungsklassen teilen, ein kommodes bis luxuriöses Wanderleben in partieller Quarantäne. Wo immer sie an den Start gehen, bleiben sie in eigens eingerichteten Fahrerhotels gleich beim Velodrom in Klausur; jeder Kontakt mit den Zuschauern ist wegen möglicher Absprachen verboten. So bleiben den Fans nur jene Minuten bei der Vorstellung des nächsten Rennens, um ihre Hoffnungsträger mit einem lauten "Gambare!" ("Kämpfe!") in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Vier bis sechs Runden beziehungsweise 2000 bis 2500 Meter sind im Oval zu absolvieren; wer dann den Reifen vorn haben will, muss mitunter auch mal seine Ellbogen gebrauchen. Das Gedrängel in der Schlussrunde ist groß, die Gefahr eines Sturzes fast immer gegeben. Ein Schlüsselbeinbruch pro Jahr ist für die hartgesottenen Profis in dem Radzirkus fast schon ein Durchschnittswert. Und wer glaubt, den Sprint auf dem schaltungslosen Rad einfach immer von vorne anziehen zu können, sieht sich schnell so getäuscht wie der mehrfache deutsche Weltmeister Michael Hübner. Der Chemnitzer nahm vor einigen Jahren als einer von acht ausgesuchten "Gai-Jins" (Ausländern) an jener knapp zweimonatigen Kurzsaison teil, bei der die Stars aus dem Westen gegen die einheimischen Asse der obersten Leistungskategorie (S 1) antreten. Aber auch das Zwei-Zentner-Kraftpaket musste einsehen, dass Powerplay allein nicht genügt. Die Muskelschmerzen bei seinen ersten Rennen empfand Hübner "wie eine Entjungferung".

"Die brettern da in Lücken, wo gar keine sind", wunderte sich der Weltmeister über die taktischen Finessen im Feld - und kam im nächsten Jahr dennoch zurück. Nirgendwo können westliche Athleten schließlich besser Sprinthärte trainieren - und nirgendwo können sie im Erfolgsfall mehr verdienen. Bahnrad-Asse wie Hübner oder sein Nachfolger Jens Fiedler schleppten manchmal den Gegenwert einer Eigentumswohnung mit, wenn sie von der "International Keirin"-Tour nach Hause zurückkehrten. Dafür nahmen sie die Quarantäne und die strenge, etwas autoritäre Gängelung durch die Verbandsfunktionäre in Kauf. Mehr als einmal hatten sich die beiden schon verantworten müssen, wenn das vielköpfige Schiedsgericht sie wegen passiver Haltung vor der Ziellinie zur Rede stellte. Denn absolute Seriosität ist alles in dem milliardenschweren, von modernsten Rechnersystemen erfassten Wettgeschäft.

Das war nicht immer so, als der Sport bald nach dem ersten Rennen in Kokure 1948 seinen Aufschwung nahm. Die Erlöse aus dem Keirin trugen zwar zum Wiederaufbau des Landes bei, doch hinter den Kulissen wurden bald Gerüchte über gelegentliche Absprachen und unheilvolle Verwicklungen mit der mafiösen Yakuza unüberhörbar. Erst in den Sechzigern erfolgte eine grundlegende Reinigung, in deren Folge nicht nur die Fahrerhotels, sondern auch eine eigene Schule zur Ausbildung des Nachwuchses gebaut wurden. Zwei Klassen zu 75 Aspiranten werden seit 1967 bei Shuzenji auf der Halbinsel Izu in Radmechanik, Strategie und ethischer Wettbewerbs-Ausübung unterrichtet. Und dabei geht es eher klösterlich als gelassen zu. Strafmaßnahmen und kleine Schläge mit dem "Shinai" (Bambusstock) haben nach Auffassung des dortigen Lehrpersonals schließlich noch niemand geschadet.

Dennoch schafft im Durchschnitt höchstens einer aus den beiden Klassen später den Sprung in die S-1-Kategorie, wo die Besten bis zu drei Millionen Mark einnehmen können. Superstars eben wie Toshimasa Yoshioka und andere, die dem Vergleich mit der Weltelite außerhalb ihrer Landesgrenze lieber aus dem Wege gehen. So überrascht es nur Außenstehende, dass das Finale in Sydney ohne japanische Beteiligung stieg. Allein durch die Aufnahme ins offizielle Programm hat der wegen seines Wettcharakters beargwöhnte Sport dafür zu Hause an Ansehen gewonnen - und diesen Sieger Rousseau kaufen sich die hohen Herren von Minato-ku zum Start der internationalen Saison im nächsten März sowieso.

Bertram Job

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