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Kevin Kuranyi, 29, spielt seit 2010 für Dynamo Moskau. Zuvor absolvierte der 52-malige Nationalspieler 261 Bundesligapartien für den VfB Stuttgart und Schalke 04. Foto: Reuters

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Kevin Kuranyi: „Plötzlich hatte ich eine Kalaschnikow in der Hand“

Russland-Legionär Kevin Kuranyi spricht im Interview über die Nationalelf, Vorurteile gegenüber Russland und Schießübungen bei Dynamo Moskau

Herr Kuranyi, bringt die Länderspielpause etwas Erholung mitten in Ihrer Saison bei Dynamo Moskau, die im März begonnen hat und noch bis Mai 2012 dauert?

Wir müssen nicht reisen, sondern trainieren Zuhause, was bei 44 Saisonspielen allein in der Liga tatsächlich guttut. Dafür ist es Zuhause derzeit etwas unruhig. Unsere Tochter Vivien hat leider eine Mittelohrentzündung, das hält alle in Atem.

Gute Besserung. Ist es etwa schon so kalt in Moskau?

Danke für die guten Wünsche. Es ist nicht viel kälter als in Deutschland. Die Kälte kommt noch. Aber mir scheint, es ist eines der vielen Vorurteile, dass es in Russland immer irre kalt sei. Das stimmt wie vieles andere nicht.

Wir haben weitere Vorurteile: Es ist gefährlich in Moskau, die Leute trinken viel, außerhalb der Stadt lauern Bären, beim Fußball sind die Stadien leer.

Moskau ist eine faszinierende Stadt, die nicht gefährlicher ist als andere. Bären gibt es nur im Zoo. Und im Fußball holt Russland bis zur WM 2018 sicher weiter auf. Die Leute sind grundsätzlich sportbegeistert, aber die Nummer eins ist Eishockey.

Im Fußball kommen nur zu den Moskauer Stadtderbys mehr als 10 000 Zuschauer, oder?

Das stimmt. Dann ist einiges mehr los.

Wie stark ist die russische Liga?

In der Breite ist die Bundesliga stärker, aber die Topklubs könnten in Deutschland eine gute Rolle spielen.

Es gibt offenbar wenig Schlechtes zu berichten.

Doch, eins ist wirklich schlimm ...

... und das wäre?

Der Verkehr! Wenn du Pech hast, stehst du stundenlang im Stau. An meinem ersten Tag steckten wir mit der Mannschaft fest. Einer schlug vor, mit der U-Bahn zu fahren. 80 Prozent der Mannschaft sind dann ausgestiegen, und wir sind mit der U-Bahn weiter.

Wie vermeidet die Familie Kuranyi den höllischen Verkehr?

Wir wohnen im Norden der Stadt. Schulen, Kindergarten und Trainingszentrum sind alle in der Nähe unseres Hauses ...

... das in einem bewachten Viertel liegt?

Ja, man fährt durch ein Tor. Wenn man neu ist hier, gibt einem das schon das Gefühl, dass die Familie sicher ist.

Also doch Angst?

Keine Angst, aber wir haben kurze Wege und ich die Gewissheit, es geht alles in Ordnung, wenn wir zum Beispiel Auswärtsspiele haben.

Sportlich läuft es gut für Sie, Dynamo steht auf dem dritten Platz, Sie gelten als Liebling der Fans. Selbst nach zehn Spielen ohne Tor werden Sie gefeiert – anders als bei Schalke, wo Sie ausgepfiffen wurden.

Vielleicht honorieren die Leute, dass ich offen auf sie zugehe und keine Probleme habe, mich zu integrieren und am „Russian Way of Life“ interessiert bin.

Das heißt also, Sie können 27 Wodkas trinken und die Gläser auf den Boden schmettern?

Ich dachte, wir wären mit den Vorurteilen durch? Das Auf-den-Boden-Schmettern bekäme ich hin, alles andere wäre ein bisschen viel für mich. Man muss ja nicht alles so extrem mitmachen. Ich habe hier noch keinen gesehen, der so gebechert hätte, bei uns im Team schon gar nicht.

Kurioses gab es aber trotzdem. Sie mussten einmal bei Schießübungen mitmachen, was für einen Stürmer zunächst logisch klingt – bei Dynamo wird aber auch mit echten Waffen geschossen.

Ja, das war neu für mich, ist aber Tradition bei Dynamo. Ich hatte noch nie so viele Waffen in der Hand wie an dem Tag. Dabei habe ich die ganze Sache zuerst für ein Missverständnis gehalten. Als der Präsident kam und Schießübungen ankündigte, dachte ich an den Fußballplatz. Ich wollte mich schon umziehen, dann sind wir aber auf ein Militärgelände gefahren. Oft muss ich das aber nicht machen, ich bin alles andere als ein Waffennarr. Aber ich konnte mich dem nicht entziehen. Plötzlich hatte ich eine Kalaschnikow in der Hand.

Ihr Vertrag bei Dynamo läuft noch bis 2013. Ist eine Verlängerung vorstellbar?

Vorstellbar ist das sicher, weil sich meine Familie und ich sehr wohlfühlen. Aber auch eine Rückkehr in die Bundesliga schließe ich nicht ganz aus. Zuerst allerdings kommt Dynamo.

Sie fühlen sich sportlich wohl, Sie haben acht Tore erzielt.

Und einige vorbereitet. Ich spiele meist nicht ganz vorne, sondern weiche oft nach hinten und auf die Flügel aus und schaffe Räume. Man lässt mir viele Freiheiten.

Lassen Sie uns über ein weniger erfreuliches Kapitel Ihrer Karriere sprechen: die Nationalmannschaft. Verfolgen Sie die Länderspiele der Deutschen?

Wenn es geht: immer.

Wie ist es um Ihre Gefühle dabei bestellt?

Ich habe das meiste, was da war, sicher verarbeitet. Ich denke, ich habe in der Hinsicht meinen Frieden gefunden.

Haben Sie Hoffnung auf eine Rückkehr? 2008 hatten Sie in der Pause des Qualifikationsspiels gegen Russland das Stadion verlassen und wurden danach von Bundestrainer Joachim Löw nicht mehr eingeladen.

Im Augenblick ist das kein Thema, ich beschäftige mich nicht damit. Ich habe zweifellos Fehler gemacht und bin dafür hart bestraft worden. Aber ich habe daraus gelernt. Ich drücke den Jungs die Daumen und freue mich von ganzem Herzen, wenn sie so gut spielen wie jetzt und gewinnen.

Gibt es noch Kontakt zum Bundestrainer, den Nationalspielern oder dem Umfeld?

Mit vielen Spielern bin ich befreundet und habe viel Kontakt. Wir schreiben uns und telefonieren.

Sprechen Sie auch mit dem Bundestrainer?

Das ist lange her.

Das Gespräch führte Oliver Trust.

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