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Echte Wolle? Nicht wirklich.

© Wiedersich

Kolumne "Abgefahren": Monsanto und der tote Frosch

Unser Kolumnist rüstet sich für kalte und nasse Tage auf dem Rad. Dabei ist er in seinem Kleiderschrank auf Erstaunliches gestoßen.

Michael Wiedersich ist Radsporttrainer und Sportjournalist. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.

Der Winter beginnt kalendarisch zwar erst kurz vor Weihnachten, aber in der letzten Woche gab es schon einmal einen kleinen Vorgeschmack. Beim morgendlichen Blick auf das Wetterradar war klar: Es ist ziemlich kalt da draußen. Tatsächlich lagen die Temperaturen an einigen Tagen sogar unter dem Gefrierpunkt. Wer trotzdem auf dem Rad an der frischen Luft unterwegs sein wollte, stellte sich unweigerlich die Frage: Was ziehe ich an? Frieren im Fahrtwind will man nicht. Wenn es einem bei der Bewegung aber zu warm wird, macht das Radfahren ebenfalls keinen großen Spaß.

Glücklicherweise gibt es inzwischen für jede erdenkliche Wetterkapriole das passende Outfit. Die einzelnen Kleidungstücke werden aus Materialien gefertigt, die offenbar fast alles können, außer sprechen vielleicht. So werden beispielsweise Radjacken gerne als atmungsaktiv, feuchtigkeitsregulierend, wasser- oder windabweisend angepriesen.

Die Trainingsjacke unseres Kolumnisten von 1982 mit den passenden Initialien
Die Trainingsjacke unseres Kolumnisten von 1982 mit den passenden Initialien

© Wiedersich

Wenn man Glück hat und genug Geld für seine Rüstung im Kampf gegen die Unbilden des Wetters ausgibt, treffen auch alle Eigenschaften auf einmal zu. Das war nicht immer so. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als Wolle der Stoff der Wahl war. Solange es trocken blieb, hatten die Trikots und Hosen eine gute Passform. Die Trikots galten nach heutiger Terminologie auch als atmungsaktiv, waren gleichzeitig aber sehr saugfähig. Wenn es regnete, zogen sich die Radfahrer-Leibchen in Richtung Kniekehle lang. Ganz zu schweigen von den Radhosen. In die Sitzfläche war eine Einlage aus echtem Leder eingenäht. Das fühlte sich bei Nässe an, als wenn man auf einem toten Frosch saß.

Radfahrer-Leibchen ziehen sich bis zur Kniekehle

In der Neuköllner Reuterstraße existierte damals sogar ein Schneider, der sich auf die Herstellung von Radsport-Trikots, -Jacken und -Hosen spezialisiert hatte. Das war ein Traditionsbetrieb und der Sage nach sollen sogar Profi-Teams bei ihm bestellt haben. Ich war als Jugendlicher einmal dort und kann mich noch an Spindeln mit farbigen Wollgarnen und große Spinnmaschinen erinnern.

Von hinten genauso schön wie von vorn. Und das alles aus dem Jahr 1982.
Von hinten genauso schön wie von vorn. Und das alles aus dem Jahr 1982.

© Wiedersich

Aus dieser Zeit habe ich noch zwei Radtrikots im Schrank. Für diese kleine Kolumne habe ich sie extra noch einmal herausgesucht. Erstmals schaute ich mir intensiv das Wäsche-Etikett an. Die erste Erkenntnis: meine vermeintlichen Wolltrikots bestanden zum größten Teil aus Kunstfaser: 70 Prozent Polyacryl, 30 Prozent Schurwolle. Das Ganze nannte sich dann Acrillan und wurde damals sogar mit einjähriger Tragekomfort-Garantie ausgeliefert. Beim zweiten Aha-Erlebnis musste ich schwer schlucken: Der Zwirn wurde von Monsanto hergestellt, Hersteller der berüchtigten Unkrautvernichtungsmittel „Agent Orange“ und „Glyphosat“.

Monsanto ist überall.
Monsanto ist überall.

© Wiedersich

Zurück in die Gegenwart. Im Regen Rad zu fahren ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Vor einiger Zeit habe ich deswegen in sogenannte NoRain-Ausstattung investiert. Wenn es schauert, perlen die Wassertropfen dank einer Membran einfach ab, die Radbekleidung saugt sich nicht voll und man bleibt trocken. Ich konnte das wegen meiner erwähnten Regenallergie nicht so oft beobachten. Trotzdem ziehe ich die Klamotten bei unsicherer Wetterlage gerne an. Denn immer, wenn ich die Anti-Regen-Kleidung trug, gab es bisher garantiert keinen Regen.

Michael Wiedersich

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