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Stefan Hermanns

© Mike Wolff/Montage: Tsp

Kolumne: Auf einen Wodka mit Stefan Hermanns: Ist die Presse wirklich so böse?

Die Fußball-Weltmeisterschaft ist auch für Reporter spannend. Hier erhalten Sie Einblicke in das Leben hinter den Kulissen. Folge vier.

Im Dezember 2014, ein halbes Jahr nach der Weltmeisterschaft in Brasilien, sind wir in London gewesen, um ein Interview mit Per Mertesacker zu führen. Es war, wenig überraschend, ein sehr angenehmes Gespräch, und als wir uns von Mertesacker verabschiedeten, sagte er: „Lasst euch mal wieder blicken!“ Als wären wir alte Freunde, die den Kontakt irgendwann hätten einschlafen lassen.

Der Kontakt war in Wirklichkeit immer ein beruflicher, von beiden Seiten: Ich habe Mertesackers komplette Karriere in der Nationalmannschaft journalistisch begleitet. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er im Oktober 2004, bei seiner ersten Nominierung, ein wenig orientierungslos in der Lobby eines Münchner Hotels steht, nachdem er vom Fahrdienst des DFB am Flughafen abgeholt worden ist. Und ich sehe ihn genauso vor mir, wie er knapp zehn Jahre später in der Mixed-Zone des Maracana eine kleine Spielergruppe anführt und singend an den Journalisten vorbeiläuft, um ihre Fragen nicht beantworten zu müssen. Wir haben rund um Länderspiele einige Male miteinander geredet, in Mixed-Zonen miteinander gesprochen. Aber, bei allem Respekt vor dem Menschen Per und dem Fußballer Mertesacker: Freunde sind wir nie gewesen. Genauso wenig wie ich jemals sein Feind war.

Per Mertesacker hat das vermutlich einmal geglaubt. Man kann diesen Moment sogar exakt terminieren. Es war der 14. Juni 2006, die Nationalmannschaft hatte gerade im Dortmunder Westfalenstadion das zweite WM-Gruppenspiel gegen Polen durch ein spätes Tor von Oliver Neuville 1:0 gewonnen, und ich saß auf der Pressetribüne. Weit unten, nur fünf oder sechs Reihen hinter der Ersatzbank. Mertesacker verließ, wenn ich mich recht erinnere, als einer der letzten Spieler das Feld, er blieb kurz vor der Pressetribüne stehen, machte ein extrem böses Gesicht und ließ uns zum Abschied eine abwertende Geste zukommen, die ich sehr irritierend fand – weil sie nicht mit meinem Bild von Per Mertesacker übereinstimmte, den ich bis dahin als sehr klugen und überlegten Menschen kennengelernt hatte.

Wir sind eben keine Fans

Mertesacker hat später erklärt, dass er uns Journalisten in diesem befreienden Moment, der den Beginn des fröhlichen Schland-Patriotismus markierte, schlicht zu negativ fand. Für dieses Gefühl genügte es offenbar schon, dass wir anders als die restlichen Zuschauer nicht von unseren Sitzen aufgestanden waren, um der Nationalmannschaft bei ihrer Ehrenrunde zu applaudieren.

Wir Journalisten sind die, die bei Welt- und Europameisterschaften ausgepfiffen werden, weil an unseren blauen Tischen die schönen Laolas zerschellen. Mal abgesehen davon, dass es schwierig ist, einen Text in seinen Laptop zu tippen, wenn man dauernd aufsteht und sich wieder hinsetzt – wir Journalisten haben eben per definitionem eine andere Aufgabe, als „unsere“ Mannschaft nach vorne zu brüllen.

Dass die Nationalspieler „die“ Presse zu negativ finden, wie es nach dem Sieg gegen Schweden zum Beispiel Joshua Kimmich geäußert hat, ist also kein neues Phänomen; es liegt in der Natur der Sache beziehungsweise möglicherweise an falschen Erwartungen. Die Nationalspieler sind es seit 2006 gewohnt, dass ihr Tun in einer unnatürlichen Weise überhöht wird; da kann man normale professionelle Distanz, wie sie von seriösen Medien gewahrt wird, schnell mal als Majestätsbeleidigung auffassen.

Hinzu kommen die, ja, extremen Bedingungen, unter denen sich die Nationalspieler in den fünf Wochen eines Turniers bewegen. Kaserniert und von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten erleben sie die Realität wie durch einen Filter. Das war schon 2002 so, als die Spieler Ende Mai als Rumpeltruppe und sicherer Achtelfinalausscheider nach Japan reisten und auf der Insel Kyushu im Pazifik überhaupt nicht mitbekamen, dass sie in der Heimat längst als Helden verehrt wurden. Ein großes Turnier ist immer eine Zeit der Extreme. Niederlagen werden schnell zu nationalen Katastrophen, Siege zu historischen Triumphen.

Inzwischen besteht der Filter gerade für die Spieler immer mehr aus den sozialen Medien mit all ihren Auswüchsen und Verzerrungen. Dass sich die Qualitätsmedien analytisch mit der Niederlage gegen Mexiko auseinandergesetzt haben, wird daher vermutlich weniger zur Kenntnis genommen als die polemischen Aussagen einiger abgehalfterter Ex-Nationalspieler, die als Trainer nicht mal mehr in der vierten Liga einen Job finden, deren eigentlich belanglosen Ansichten aber millionenfach verbreitet werden. Und wenn die „Bild“ glaubt, mit der schwachsinnigen und latent rassistischen Aussage von Lothar Matthäus über Mesut Özil ihre Zeitung aufmachen zu müssen, dann ist das eben die „Bild“ – aber nicht „die“ Presse.

Reus: Die Medien waren zu negativ

Mario Gomez, ein reflektierter Mensch wie Per Mertesacker, hat vor dem Spiel gegen Schweden gesagt, dass die mediale Kritik nach der Niederlage gegen Mexiko selten so mit der internen Kritik der Mannschaft übereingestimmt habe. Joshua Kimmich, Toni Kroos und Marco Reus haben diese Aussage offenbar nicht geliked. „Ich hatte einfach das Gefühl, dass in den Medien zu negativ geschrieben wurde“, hat Reus am Montag gesagt. „Aber ich denke, dass wir gegen Schweden die passende Antwort gegeben haben.“

Man sollte das alles nicht persönlich nehmen, beide Seiten nicht. Es gibt in diesen Wochen eben eine hermetisch abgeriegelte Innenwelt und eine Außenwelt, was dazu führt, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt. Die Perspektive der Medien wird übrigens von der Innenwelt immer weiter verengt. Sich zum Beispiel als Journalist im Training ein Bild von der Form eines bestimmten Spielers zu machen ist inzwischen unmöglich. Seit Beginn der Vorbereitung vor exakt 34 Tagen durften wir bei genau zwei Einheiten zuschauen. Bei allen anderen werden wir nach 15 Minuten vom Hof gejagt, in der Regel also immer dann, wenn der Ball ins Spiel kommt.

Denen da drinnen kommt unsere Perspektive daher zunehmend verzerrter vor. Vor vier Jahren zum Beispiel soll unsere Einschätzung des Trainingslagers in Südtirol innerhalb der Mannschaft große Heiterkeit ausgelöst haben. Uns kam die Vorbereitung alles andere als perfekt vor: Das Wetter war schlecht, viele wichtige Spieler konnten wegen Verletzungen nur eingeschränkt trainieren – und dann endete die PR-Aktion des Generalsponsors auch noch mit einem Unfall, bei dem ein Mensch schwer verletzt wurde. Anders, als von uns vermutet, hatte all das auf den Erfolg bei der WM allerdings nicht den geringsten Einfluss, höchstens einen positiven, von wegen: Den zeigen wir es jetzt!

Ich finde das vollkommen okay. So, wie es auch okay war, dass Per Mertesacker nach dem WM-Finale 2014 nicht mit uns geredet hat, sondern „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ singend an uns vorbeimarschiert ist. Dieses Bild war wertvoller, als es jedes Zitat von ihm hätte sein können.

Arbeiten, wo andere Urlaub machen

Folge drei

Ich bin umgezogen. Aus unserem 22-stöckige Autobahnhotel in Moskau nach London. London heißt der Block des Hotels in Sotschi, in dem sich mein sehr geräumiges und sehr modernes Zimmer mit Balkon befindet. Andere Kollegen wohnen in Paris, Rom und Athen. Das W-Lan funktioniert tadellos, was für einen Turnierreporter im Zweifel wichtiger ist als die schöne Aussicht. Mein Blick vom Balkon geht jetzt auf einen kleinen Platz mit einer Bühne, wo am Abend die Kinderdisko stattfindet. Zwischen den gegenüberliegenden Hotelgebäuden sind sogar die Berge zu erkennen.

Unsere temporäre Unterkunft ist ein Familienurlaubshotel mit den entsprechenden Angeboten für Kinder. Sotschi oder genauer Adler, wo wir jetzt einquartiert sind, ist ein Touristenort mit Sonne, Strand und mehr. Das Fisht-Stadion befindet sich am Ende der Strandpromenade, am Abend blinkt die äußere Hülle so penetrant in allen Farben, dass man den Eindruck haben könnte, die Arena stamme aus einem China-Shop auf der Kantstraße.

Wie aus dem China-Shop auf der Kantstraße

Die Kollegen, die schon vor einem Jahr vom Confed-Cup aus Sotschi berichtet haben, sind bei der Aussicht, ans Schwarze Meer zurückzukehren, regelrecht aufgeblüht. Einen ähnlichen Effekt erhofft sich der Bundestrainer Löw nach den Tagen im Birkenwald von Watutinki vermutlich auch bei seinen Spielern. Ein bisschen sommerliche Lockerheit kann der Mannschaft vor dem entscheidenden Spiel gegen Schweden ganz bestimmt nicht schaden.

Wir arbeiten jetzt jedenfalls da, wo andere Urlaub machen. Das war auch schon 2002 so, bei meiner ersten WM als Reporter in Japan und Südkorea. In der K.-o.-Runde, als die Nationalmannschaft in Südkorea spielte, wohnten wir auf der Insel Jeju und zwar in einem sündhaft teuren Hotel (angeblich eines der fünf besten des ganzen Landes), das den logistischen Vorteil hatte, dass es nur etwa fünf Minuten vom Quartier der Nationalmannschaft entfernt war. Die meisten anderen Journalisten wohnten im Hauptort der Insel und mussten jeden Tag eine Stunde zum Training und zur Pressekonferenz fahren. Eine Stunde hin. Und am Nachmittag wieder eine Stunde zurück.

Um meinen Verlag nicht in den Ruin zu treiben, teilte ich mir ein (gar nicht mal so großes) Doppelzimmer in dem Super-Duper-Luxushotel mit einem Kollegen aus Hamburg. Und weil wir so nett waren, gewährten wir einmal sogar noch einem Kollegen aus Stuttgart, der im Hauptort der Insel untergebracht war, Asyl für eine Nacht. Aus den Polstern unseres Sofas bauten wir ihm eine provisorische Bettstatt. Vor unserem Balkon lag, nein, nicht die Kinderdisko, sondern der „Lake Garden“, eine künstliche Lagunenlandschaft mit holländischen Windmühlen und Grotten aus Plastik. Morgens um sieben gingen sämtliche Springbrunnen und künstlichen Wasserfälle an, so dass man mit dem unguten Gefühl aufwachte, dass es in Strömen regnete. Jeden Mittag und jeden Abend wurde eine gigantische Drachenshow aufgeführt, mit Dampf und Feuer, vor allem aber mit viel Krach. Überhaupt wurde der „Lake Garden“ dauerbeschallt, wobei das Musikrepertoire denkbar beschränkt war: Entweder lief eine Techno-CD oder eine Best-of-Kompilation der Beatles. Beides in maximaler Lautstärke.

Im Ferienpark am Pazifik

Vor dem Umzug nach Südkorea hatte sich die Nationalmannschaft (und damit auch wir Journalisten) in Miyazaki einquartiert, auf der Insel Kyushu ganz im Süden Japans. In Wirklichkeit logierte der Tross allerdings nicht in Miyazaki, sondern in einem exterritorialen Gebiet namens Seagaia Sea Park, einem riesigen Ferienpark direkt am Pazifik mit allerlei Attraktionen, unter anderem einem Spaßbad für bis zu 10.000 Besucher, obwohl, wie gesagt, der Pazifik gleich um die Ecke lag. Der Ferienpark stand damals kurz vor der Insolvenz, weil die erhofften Touristenmassen ausgeblieben waren, und in meiner Erinnerung ist es so, dass wir dort mehr oder weniger unter uns waren.

Es gab in diesem Park eine kleine Eisenbahn (ohne Schienen), die die einzelnen Hotels anfuhr und vermutlich vor allem für Kinder gedacht war. Wir ließen uns damit zum Training und zur Pressekonferenz kutschieren. Jeder Halt wurde von einer Stimme vom Band angesagt, erst auf Japanisch, dann, mit sonorem Timbre, auch auf Englisch. Nach nicht einmal einer Woche konnte der Kollege einer bekannten Süddeutschen Zeitung die Ansage perfekt imitieren.

Damals erzählte man sich, mit leichter Häme natürlich, dass das Hotel der Journalisten besser und luxuriöser sei als das der Nationalmannschaft. Im Zweifel hat das die Spieler nicht weiter gestört. Ihr viel größeres Problem war, dass die deutschen Stecker für ihre Playstations nicht mit den japanischen Steckdosen kompatibel waren. Wenn ich mich recht erinnere, wurde dieser Missstand allerdings recht schnell behoben, so dass dem großen Erfolg der Rumpeltruppe von Rudi Völler beim Turnier nichts mehr im Wege stand.

Ich selbst wohnte nicht in dem luxuriösesten Hotel der Anlage, sondern in einem zweckmäßigen Appartement. Das hatte den Vorteil, dass man nicht jeden Abend teuer hätte essen gehen müssen. Hätte. Töpfe und Pfannen, für die Essenszubereitung nicht ganz unwichtig, zählten leider nicht zur Grundausstattung des Appartements. Aber man konnte sie an der Rezeption ausleihen. Für eine entsprechende Gebühr, versteht sich. 15 Euro kostete ein Set, allerdings nicht für den gesamten Aufenthalt, sondern nur für die Zeit von 16 Uhr am Nachmittag bis um 10 Uhr am nächsten Morgen.

Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht erinnern, dass ich im Seagaia Sea Park viel gekocht habe.

Wie ich mal für Mayonnaise gehalten wurde

Folge zwei

Einen echten Turnierreporter erkennt man daran, dass er ein etwa acht mal zwanzig Zentimeter großes Stück Plastik vor dem Bauch trägt. Es baumelt an einem Band, das einem böse Schnittwunde im hinteren Halsbereich zufügt. Aber diesen Schmerz muss man aushalten (oder Hemden mit Kragen tragen). Denn ohne diese Stück Plastik – man nennt es auch Akkreditierung – geht bei einem Turnier weniger als gar nichts.

Entsprechend aufgeregt sind wir Journalisten bei diesem Thema, selbst noch erfahrenere Turnierreporter als ich. Wenn sich wenige Monate vor einer Weltmeisterschaft die Frage geklärt hat, wo wir während des Turniers unterkommen werden, geht es nur noch darum: Wann und vor allem wo kriegen wir unsere Akkreditierung? Ohne Akkreditierung können wir kein WM-Spiel sehen, ohne Akkreditierung können wir nicht mal 15 Minuten beim Aufwärmen der deutschen Mannschaft zuschauen und auch die täglichen Pressekonferenzen nicht besuchen. Das Problem ist: Man kann sich die Akkreditierung nicht einfach zwei Wochen vor Abflug in das Ausrichterland per Post in die Redaktion zuschicken lassen, man kann sie auch nicht im Medienzentrum der deutschen Mannschaft in Empfang nehmen. Die Fifa verlangt persönliches Erscheinen – und zwar an einem der Turnier-Spielorte.

Das war in der Vergangenheit nicht ganz unproblematisch, weil die diversen Bundestrainer die Angewohnheit hatten und haben, sich mit ihren Mannschaften in der Mitte des Nichts einzuquartieren. Genau da, wo man nicht im Geringstesten merkt, dass gerade in diesem Land ein großes Fußballturnier stattfindet. In der Regel hat der DFB unser Problem so gelöst, dass er den eingebetteten Journalisten im Gefolge der Nationalmannschaft für die Tage bis zum ersten Spiel DFB-eigene Akkreditierungen ausgestellt hat, Akkreditierungen zweiter Klasse sozusagen, mit denen man zumindest die Trainingseinheiten und die Pressekonferenzen der Nationalmannschaft besuchen durfte. Das ist in Russland erstmals nicht mehr der Fall. Es gibt nur eine Akkreditierung, eine Akkreditierung…

Mit dem Bus durch Japan

Was bei uns in der Vergangenheit zu Schnappatmung, Herzrasen und Schweißausbrüchen geführt hätte, weil ein Leben ohne Akkreditierung zwar denkbar, aber nicht lebenswert ist, das hat sich hier in Moskau als vollkommen unproblematisch herausgestellt. Am Morgen nach unserer Ankunft haben wir um 8.15 Uhr unser 22-stöckiges (nicht 15-stöckig, wie ich fälschlicherweise beim letzten Mal geschrieben habe) Plattenbau-Hotel an der Autobahnkreuzung verlassen; vier Metrostationen und 45 Minuten später waren wir bereits stolze Besitzer einer Fifa-zertifizierten WM-Akkreditierung. So einfach war es noch nie. Keine Schlange, kein schiefes Lächeln in eine schlechte Internetkamera für das obligatorische Foto und kein Warten auf die Bearbeitung. Es war alles vorbereitet.

Bei meinem ersten Turnier vor 16 Jahren logierte die Nationalmannschaft in Miyazaki auf der Insel Kyushu, am unteren Rand von Japan. Der nächste Spielort Oita lag 250 Kilometer Richtung Norden. Das Reisebüro des DFB organisierte für uns dankenswerterweise eine Gruppenreise zum Medienzentrum in Oita. Und so stieg nahezu der komplette Tross deutscher Journalisten an einem frühen Samstagmorgen – sonntags erschienen damals keine Zeitungen, außer meiner natürlich – einen Reisebus (möglicherweise waren es auch zwei) und startete zu diesem kleinen Ausflug durch Japan. Zehn Stunden später waren wir wieder zurück in Miyazaki. Immerhin im Besitz einer echten WM-Akkreditierung.

Nachts um zwanzig vor vier in Salvador da Bahia

Vor vier Jahren flogen wir im selben Flugzeug wie die Nationalspieler von Frankfurt nach Salvador da Bahia. Nach unserer Ankunft um 3.40 Uhr Ortszeit stieg die Mannschaft in einen Charter nach Porto Seguro, während wir Journalisten auf dem Flughafen nach einer Gepäckaufbewahrung für unsere 25-Kilo-Koffer suchten (die es tatsächlich gab) und anschließend mit einem Taxi zum Medienzentrum am Stadion fuhren. Der DFB hatte es tatsächlich geschafft, dass das Akkreditierungszentrum mitten in der Nacht für uns öffnete – was heute vermutlich auch nicht mehr ginge. Und so reihten wir uns nach elf Stunden Flug in die Warteschlange, lächelten mit verrutschter Frisur schief in die schlechte Internetkamera und bekamen schließlich die Akkreditierung, die uns zu richtigen Turnierreportern macht. Ich habe mir damals notiert: „Hässlichstes Akkreditierungsfoto aller Zeiten.“

Dafür freute sich die freundliche Brasilianerin an der Ausgabe. Als sie meinen Namen las, fing sie an zu lachen. „Hermanns“, sagte sie – was sich anhörte wie „Helmanns“ – „Das heißt bei uns Mayonnaise.“

Es weihnachtet sehr

Folge eins

„Lieber Kollege, unsereiner neigt dazu, den Japaner zu unterschätzen. Vielleicht liegt das daran, dass der Japaner ständig nickt und lächelt und dass Europäer eine gewisse Unterwürfigkeit aus diesem Verhalten herauslesen wollen.“ So begann vor 16 Jahren mein erster Brief aus Japan an meinen Kollegen Sch. in Südkorea. Es war die erste Fußball-Weltmeisterschaft, über die ich berichten durfte. Und es war auch die erste Fußball-Weltmeisterschaft, die in zwei Ländern, in Japan und Südkorea, ausgetragen wurde. (Inzwischen geht der Trend ja sogar zum Drittausrichter, aber das ist eine andere Geschichte.) Während ich also 2002 in der Vorrunde die deutsche Nationalmannschaft durch Japan begleitete, weilte der Kollege Sch. in Südkorea, weshalb die Redaktion auf die grandiose Idee gekommen war, dass der Kollege Sch. und ich uns immer abwechselnd Briefe schreiben sollten, in denen wir dem jeweils anderen von unseren aufregenden Erlebnissen in einer fremden Welt berichten. Also keine echten Briefe natürlich, die mit der Post befördert werden und uns vermutlich erst weit nach dem Endspiel in Yokohama erreicht hätten, sondern Briefe, die im Tagesspiegel veröffentlicht werden, damit nicht nur der Kollege Sch. in Südkorea erfährt, wie es so ist in Japan, sondern auch die Leserschaft in Berlin. Insgesamt habe ich zwei Briefe nach Südkorea verschickt, dann wurde der Briefverkehr von der Redaktion lahmgelegt. An die genauen Gründe erinnere ich mich nicht mehr, mit der Qualität der Texte wird es aber ganz sicher nichts zu tun gehabt haben.

Ich weiß aber noch, dass ich anfangs leicht verärgert war, weil man als junger Bursche bei seinem ersten Turnier natürlich besonders motiviert ist, weil man mit extra weit geöffneten Augen durch die fremde Welt geht und immer auf der Suche nach ungewöhnlichen Dingen und Erfahrungen ist. Der Ärger hat sich dann schnell gelegt. Zu tun war auch so genug – und im Nachhinein, mit der Erfahrung von inzwischen acht großen Turnieren, bin ich sogar richtig froh, dass es so gekommen ist. Denn damals wurde nicht nur der Briefverkehr eingestellt, es scheint fast so, als sei dieses Format, das bei vielen Zeitungen „Tagebuch“ genannt wird, die persönlich eingefärbte Kolumne des WM- oder EM-Reporters, beim Tagesspiegel für immer und ewig beerdigt worden. Ist es natürlich nicht. Latent habe ich bei fast jedem der folgenden Turniere den Wunsch verspürt, dass es doch schön wäre, wenn ich auch einmal über die kleinen Dinge am Rande berichten könnte, über Land und Leute und nicht nur über Poldi und Schweini. Richtig konkret wurde das allerdings nie.

"Hilfe! Ich muss noch ein Tagebuch schreiben"

Meine Erfahrungen mit solchen Formaten sind, wie gesagt, nur mittelbare, aber die reichen mir. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass viele Kollegen die Sache mit genauso viel Elan angehen, wie ich es damals in Japan getan habe. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass dieser Elan von Tag zu Tag schwindet, dass es immer mehr ein Krampf wird, jeden Tag eine besondere, möglichst noch lustige Geschichte zu identifizieren und aufzuschreiben. Man kann die Reporter bei einem großen Turnier im Groben in zwei Gruppen unterteilen: in Tagebuchschreiber und Nicht-Tagebuchschreiber. Man erkennt die Tagebuchschreiber nach spätestens zwei Wochen an den zunehmend verknifferenen Gesichtern, an den müden Augen, wenn sie, nachdem sie ihre Texte zu Kroos und Khedira, zu Viererkette und falscher Neun längst fertig haben, noch zu später Stunde, während längst ein WM-Spiel über die Bildschirme flimmert, durchs Pressezentrum schlendern, auf der verzweifelten Suche nach Inspiration. „Ich muss noch ein Tagebuch schreiben“, hört man sie dann fluchen. Oder auch: „Hast du noch was für mein Tagebuch?“

In den ersten Tagen berichten sie noch von skurrilen Erlebnissen, wie sie in Moskau ihre Wohnung nicht finden zum Beispiel. Im Laufe der Zeit aber werden solche Kolumnen immer selbstreferenzieller. Oder, um es etwas weniger wissenschaftlich auszudrücken: Journalisten schreiben darüber, was sie mit anderen Journalisten erleben, wenn sie ihre eigentliche Journalistenarbeit getan haben. Ja, das kann auch mal witzig sein, wenn man infolge eines biblischen Unwetters plötzlich im Bett von Kevin Grokreutz landet. Und manchmal führt es sogar zu diplomatischen Verwicklungen. 2002 berichtete der Kollege einer Zeitung aus Bayern in seinem Tagebuch, wie er mit einem Kollegen aus dem Ruhrgebiet auf der südkoreanischen Hochzeitsinsel Jeju eine Karaoke-Bar besuchte. Nach einigen alkoholischen Getränken kam man mit einem Einheimischen ins Gespräch, und schließlich brachte der Kollege aus Westdeutschland, ein eingefleischter Fan des FC Schalke 04, dem Koreaner ein Schmählied gegen den BVB bei, das er dann zur allgemeinen Erheiterung auch zum Besten gab. Dummerweise berichtete dieser Reporter für seine Zeitung im normalen Leben über Borussia Dortmund, und obwohl sein Name nicht genannt wurde, war er relativ leicht zu identifizieren – weil es eben in diesen WM-Wochen nicht allzu viele BVB-Reporter gab, die der Nationalmannschaft durch Asien folgten. Der bedauernswerte Kollege bekam also einigen Ärger mit seiner Redaktion. Inzwischen berichtet er übrigens über Schalke 04.

Als Außenstehender stellt man sich das Leben eines Turnierreporters vermutlich unglaublich aufregend vor. Unabhängig davon, dass man die Spiele, die alle sehen wollen, im Stadion verfolgen darf: Man bereist fremde Länder, lernt Gegenden kennen, die man in vielen Fällen sonst nicht kennen lernen würde, wird mit anderen Sitten und Gebräuchen konfrontiert. Der Alltag gestaltet sich dann nicht ganz so spannend. Im Moment wohnen wir in einem 15-stöckigen Hotelbunker am Stadtrand von Moskau, genauer gesagt an der Kreuzung zweier Ausfallstraßen mit zusammen 14 oder 16 Spuren (so genau kann man die nicht zählen). Das Frühstück ist reichhaltig. Allerdings muss man im Saal Kalinka ein wenig suchen, bis man einen Platz findet, der nicht im Luftstrahl der Klimaanlage liegt. Dazu kommt die Musikbeschallung in einer durchaus beträchtlichen Lautstärke. Heute Morgen dudelte in einer Easy-Listening-Free-Jazz-Version wieder „Gloria in excelsis Deo“ aus den Lautsprechern, es folgte der Jahreszeit entsprechend „Little Drummer Boy“. Vom Hotel begeben wir uns am frühen Vormittag zum Quartier der deutschen Mannschaft in Watutinki, das etwa 20 Kilometer Richtung Berlin liegt. Wir schreiben unsere Texte im DFB-Medienzentrum, das genauso aussieht, wie das DFB-Medienzentrum in Miyazaki, Almancil oder Santo André ausgesehen hat. Am späten Nachmittag fahren wir dann wieder in unser Hotel zurück.

Und niemand hupt

Ich könnte jetzt ein bisschen was erzählen über unsere Erfahrungen auf russischen Straßen. Zum Beispiel über die an sich hilfreiche Einrichtung, dass es an den meisten Ampeln (zumindest in Moskau) eine Anzeige gibt, die die Sekunden herunterzählt, bis die Ampel wieder auf Rot respektive Grün springt. Das Bemerkenswerteste ist, wie lange die Rot- bzw. Grünphasen dauern. Als Fußgänger muss man schon mal 120 Sekunden warten, bis es weiter geht. Gestern sprang, unmittelbar bevor wir den Leninsky Prospekt, eine der Moskauer Hauptverkehrsadern, überqueren wollten, die Ampel auf Rot: 195 Sekunden wurden angezeigt. Wir warteten auf die Null. Die Null kam. Es passierte: nichts. Stattdessen dauerte es noch einmal drei Minuten, bis wir weiterfahren durften. Gehupt hat übrigens niemand.

Kurzum: Eigentlich finde ich das alles gar nicht soooo spannend, was ich hier im fernen Moskau mache. Arbeit halt. Andererseits: Wenn man am Abend mit den Kollegen beim Essen sitzt, werden irgendwann mit ziemlicher Sicherheit die alten Geschichten erzählt. Zum Beispiel über den Kollegen aus Hamburg, der 2002 am Frankfurter Flughafen für den Sonderflug der Nationalmannschaft nach Miyazaki einchecken wollte – und dann völlig unvorbereitet von der Nachricht getroffen wurde, dass für die Reise nach Japan ein Reisepass leider unerlässlich ist. Wenn ich es recht überlege: Ein bisschen was ist bei acht Turnieren in sechzehn Jahren ja doch passiert. Ich werde mal ein bisschen in meinen Erinnerungen kramen.

PS: In vier Tagen Russland habe ich noch keinen einzigen Wodka getrunken.

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