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Kolumne Europareise (14): Im Nachtzug nach Kiew

In unserer täglichen Kolumne kommentieren Jens Mühling, Marcel Reif, Moritz Rinke, Lucien Favre und Philipp Köster und im Wechsel die EM. Diesmal macht Jens Mühling eine Bekanntschaft, auf die er gerne verzichtet hätte.

Vor ein paar Jahren fuhr ich einmal mit einem durchgehenden Nachtzug von Berlin bis nach Kiew. Mein Schlafabteil bestand aus drei übereinander angeordneten Liegen, ich hatte die unterste. Die beiden Plätze über mir waren von zwei Deutschen belegt, nennen wir sie Klaus und Stefan. Klaus war um die 50, Stefan ein gutes Jahrzehnt jünger. Beide hatten das gleiche Reiseziel: Sie waren auf der Suche nach ukrainischen Frauen.

„Die geilsten Weiber der Welt!“, brüllte Klaus, der ältere von beiden, als wir uns der polnisch-ukrainischen Grenze näherten. „Die machen alles! ALLES!“ Er rieb ein paar unsichtbare Geldscheine zwischen Daumen und Zeigefinger. „AB-SO-LUT AL-LES!“

Klaus war nicht zum ersten Mal auf der Strecke Berlin–Kiew unterwegs, wobei sein Endziel nicht die ukrainische Hauptstadt war, sondern die Provinz. „Is’ billiger“ , sagte er. Verständnislos sah ich ihn an. „Die Weiber“, präzisierte er. „Billiger. In der Provinz kriegste die nachgeschmissen. Die reißen sich da um deutsche Schwänze!“

Stefan, der deutlich schüchterner wirkte als sein älterer Reisegefährte, war eher auf der Suche nach einer langfristigen Bindung. Mit den deutschen Frauen hatte er nie so recht Glück gehabt, jetzt versuchte er, im Internet eine ukrainische Braut zu finden. Über eine Art Bestellportal tauschte er seit ein paar Monaten in beiderseitig holprigem Englisch Nachrichten mit heiratswilligen Damen aus. Es war sein zweiter Trip in die Ukraine, beim ersten Mal hatte er sich vier Frauen zeigen lassen, diesmal standen drei auf dem Programm. Stefan war bislang ganz angetan von den Ukrainerinnen, die in der Regel lecker kochten und sich lecker anzogen. „Thai-Frauen gibt’s natürlich auch“, sagte er. „Ein Kumpel hat eine geheiratet, der ist echt zufrieden. Aber das muss man erst mal mögen, so Asiatinnen.“

In der Nacht packten die beiden eine Batterie Bierdosen aus und gaben sich die Kante. Klaus’ Eroberungsfantasien wurden lauter und detaillierter und schmieriger, bis irgendwann auch Stefan die Hemmungen verlor und haltlos von ukrainischen Brüsten lallte. Ich lief die halbe Nacht im Zugkorridor auf und ab, bis die beiden endlich eingeschlafen waren.

Nachts weckte mich ein undefinierbares Stöhnen, das von der mittleren Liege kam. Es war Stefan. Erst war ich nicht sicher, ob er weinte oder wichste. Dann begriff ich, dass er beides gleichzeitig tat.

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