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Auf der Stelle. Arne Bensiek fährt in seinem Wohnzimmer Fahrrad.

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Kolumne: Ich – Ironman (4): Überdosis Berg

Unser Autor will Anfang Juli am deutschen Ironman in Frankfurt teilnehmen. Mittlerweile hat er sein Rennrad aufgebockt und quält sich im Wohnzimmer die Pyrenäen hinauf. Und das alles vor den Augen eines ausgebildeten Gebirgsjägers.

Ich wurde gewarnt. Eine Trainingseinheit im eigenen Wohnzimmer sei der Höhepunkt der Langeweile. Er spreche aus leidvoller Erfahrung, meinte mein Kumpel Bernd kürzlich, eigentlich ein Radfanatiker. Ich konnte einfach nicht auf ihn hören. Denn wo ist die Alternative, wenn der Schnee seit Tagen jedes Radtraining unter freiem Himmel unmöglich macht? Also habe ich mir eine Rolle besorgt, mit der ich mein Rennrad zwischen Sofa und Bücherregal aufbocken und losstrampeln kann. Damit es nicht zu öde wird, habe ich das Premiummodell vom Marktführer geordert – Name: Elite Real Power – und obendrein mit Bier und Pizza meinen Sportsfreund Tim geködert. Als ich im kurzen Raddress die Tür öffne, schallt sein Lachen durchs Treppenhaus. „Im Wedding sind Leute schon für weniger verprügelt worden“, warnt er, als ich ihn eilig in die Wohnung ziehe.

Zwei Stunden Vorarbeit waren nötig, um mein Rennrad und den Luxusheimtrainer miteinander zu verschmelzen, die nötige Software zu installieren und Rolle und Computer per Funk miteinander zu verbinden. „Was ist das denn?“, fragt Tim und greift nach einem Stapel DVD-Hüllen neben dem Computer. „Das sind Rennradpornos“, erkläre ich. Fünf namhafte Tour-de-France-Berge gehören zum Lieferumfang. Tritt man in die Pedale, läuft ein echtes Video ab, man erklimme dann auf dem Computerbildschirm Meter um Meter die Passstraße, so die Beschreibung. Aus Triathletensicht fehlt leider das artgerechte Einzelzeitfahren. Zwar gibt es beim Ironman Germany auch Anstiege wie den Heartbreak Hill oder den Hühnerberg, aber die sind human gegen die bevorstehende Kletterpartie. Unsere Wahl fällt auf den Pyrenäenberg Col du Portet d’Aspet, mit 15,2 Kilometern und durchschnittlich fünf Prozent Steigung der vermeintlich harmloseste im Angebot.

Und dann der Moment als Udo Bölts schreit: Quäl dich, du Sau!

Die Zuschauer am Streckenrand seien gar nicht euphorisch, bemängelt mein Zuschauer Tim noch auf den ersten flachen Metern. „Aber wenn du den Berg noch zwei-, dreimal hochfährst, kennen die dich bestimmt und grüßen.“ Eine Viertelstunde Monotonie und Dröhnen der Rolle auf den Holzdielen meines Wohnzimmers später fragt er ungläubig: „Wie viele Menschen machen so was?“ Atemlos zucke ich mit den Schultern. Die Steigung beträgt jetzt mehr als zehn Prozent. Gerade mal ein Drittel der Strecke ist geschafft. Unter dem Fahrrad sieht es schon aus, als hätte ich meine komplette Trinkflasche verschüttet. Glücklicherweise bewahrt eine Schutzmatte die Nachbarin unter mir vor einem Wasserschaden.

Tim sitzt auf dem Sofa, liest Zeitung, saugt an seiner Bierflasche und beobachtet das Schweißtreiben aus den Augenwinkeln. Als es plötzlich ein Stück bergab geht, hält er mir grinsend die Zeitung hin. „Steck mal vorne unters Trikot, wie die Profis, dann kühlst du auf der Abfahrt nicht so aus.“ Auskühlen? Meine Oberschenkel stehen kurz vor der Kernschmelze. Puls 180. Im Wiegetritt bitte ich ihn keuchend, das Fenster zu öffnen. Zwei Minuten später kommt er aus dem Flur zurück, das zweite Bier in der Hand, eingepackt in seinen dicken Mantel. Ich jammere über das Stück Pizza, das ich kurz vor der Trainingseinheit noch gegessen habe – und das sich mit jeder Umdrehung deutlicher in Erinnerung ruft. Tim meint, genau das sei der Augenblick gewesen, in dem Udo Bölts damals von hinten an Jan Ullrich herangefahren sei und geschrien habe: Quäl dich, du Sau!

Als mir nach elf Kilometern völlig schwindelig ist und ich aufhöre zu treten, schnauzt er mich an: „Was machst du?“ Ich wehre mich. Als ausgebildeter Gebirgsjäger und jetziger Ministerialbeamter dürfte er sich doch mit schlagartigem Leistungsabfall auskennen. Milde zieht er die Trinkflasche und die Bananen hinten aus meinem Radtrikot und bemerkt aufbauend, jetzt müsse ich etwas weniger Gewicht den Berg hinauf schleppen.

Das durchnässte Lenkerband ist fast gefroren, als ich wieder in die Pedale trete. „Von den Minentauchern habe ich mal den Spruch gehört: Lerne leiden ohne zu klagen“, erzählt Tim. Als ich 800 Meter vor dem Gipfel wieder anhalte, zweifelt er endgültig an meiner Einstellung. Derweil frage ich mich, ob ich gerade eher an einer Überdosis Pizza oder Berg leide. „Ich tariere gerade meine individuelle Kotzschwelle aus“, entschuldige ich mich. Ich möge rechtzeitig bescheid geben, dass er den Eimer noch holen und den Raum verlassen könne. Nach kurzer Pause schleppe ich mich die letzten Meter ins Ziel. 56 Minuten und 54 Sekunden, 16,1 Kilometer pro Stunde und 191 Watt Leistung im Durchschnitt. Langweilig war das nicht. Ich bin völlig fertig, meine Oberschenkel zittern, und ich habe doch nicht mal eine Stunde trainiert. Die einzige Lösung ist: Eine flache Zeitfahretappe muss her.

Als ich Tim mit schweißnasser Hand verabschiede, schüttelt er nur den Kopf: „Bis zum Ironman kommst du hier nicht. Entweder dein Vermieter kündigt dir demnächst, oder die Nachbarin von unten erschießt dich vorher.“

Arne Bensiek ist Autor des Tagesspiegel. Jeden Donnerstag erscheint seine Kolumne „Ich – Ironman“ auf www.tagesspiegel.de/ironman

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