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Kein Zauberer am Ball.

© REUTERS

Sport: Kontrolle ist besser

Carlos Dunga lässt seine Mannschaft nüchternen Ergebnisfußball spielen. Kaum ein Team tritt bei der WM so souverän auf wie die Brasilianer, trotzdem steht der Trainer vor dem Viertelfinale gegen Holland in der Kritik

Die Liste der Kritiker ist lang. Ganz oben steht der unantastbare Pelé, an den Stränden zwischen Rio und Sao Paulo werden stündlich neue Unterschriften gesammelt, gerade erst hat sich Johan Cruyff eingetragen, der Lordsiegelbewahrer des schönen und guten Fußballs, am Freitag treffen seine holländischen Landsleute im WM-Viertelfinale in Port Elizabeth auf Brasilien. „Ich würde kein Geld ausgeben für ein Ticket, um diese Mannschaft zu sehen“, sagt Cruyff. „Wo ist bloß der brasilianische Zauber geblieben? Wenn ich an Brasilien denke, dann denke ich an Gerson, Tostao, Falcao, Zico oder Socrates. Jetzt sehe ich nur Gilberto, Melo, Bastos und Julio Baptista.“

Das geht natürlich nicht gegen Gilberto, Melo, Bastos und Julio Batista. Sondern gegen den, der sie ausgesucht hat, das Mastermind hinter dem brasilianischen Spiel bei dieser WM in Südafrika. Wobei Cruyff natürlich nie von einem Mastermind sprechen würde, ja nicht einmal von einem brasilianischen Spiel. Allenfalls von solider Fußball-Arbeit, aber was soll man auch erwarten von einem Trainer, der seinen Künstlernamen von einem der sieben Zwerge aus der brasilianischen Schneewittchen-Version entlehnt hat? Daheim nennen sie ihn „O Alemão“, den Deutschen, was an den Stränden zwischen Rio und São Paulo keineswegs als Kompliment aufgefasst wird.

Carlos Dunga hat es nie leicht gehabt. Als Spieler war er kein Regisseur, sondern einer, der den Regisseuren der anderen auf den Füßen stand. Dass es Dunga war, der Brasilien 1994 in den USA nach 24 Jahre währendem Warten als Kapitän zum Weltmeister machte, empfanden viele seiner Landsleute als Affront. Entsprechend kritisch sehen sie seinen Einfluss auf der Trainerbank. In den bald vier Jahren unter Dunga hat die Seleçao die Copa America gewonnen und den Confed Cup, die Qualifikation für Südafrika wurde so souverän bestritten, wie es eine brasilianische Mannschaft seit Ewigkeiten nicht mehr geschafft hat, unter anderem mit einem 3:1-Sieg beim Erzrivalen Argentinien. „Wir haben mehr als 100 Tore gemacht, auf irgendeine Weise müssen wir ja kreativ gewesen sein“, sagt Dunga. Aber Erfolg, der auf Zahlen beruht, hat seinen Landsleuten noch nie imponiert.

Brasilien ist auf alle Ewigkeit dazu verdammt, nicht nur erfolgreich zu spielen, sondern vor allem schön: „Jogo bonito“ heißt das auf dem internationalen Fußballmarkt geschützte Patent, dem sich jeder Nationaltrainer unterzuordnen hat. Andernfalls macht er sich zum Feind der Tausendschaft von Journalisten, die Seleçao zu Großereignissen wie einer WM begleiten und sich weniger der Objektivität verpflichtet fühlen denn der Wahrung eines nationalen Auftrages, nämlich die Schönheit des Spiels hinaus in die Welt zu tragen. Fassungslos stehen sie vor Carlos Dunga, wenn der sagt: „Wir spielen kein Jogo bonito mehr.“

Nach dem 3:0 im Achtelfinale über Chile musste sich der Trainer verantworten, als hätte er gerade die Auflösung der Nationalelf beschlossen. Der Sieg war nie gefährdet, die Tore entsprangen exzellenten Kombinationen – einen Spielzug, wie er dem 2:0 von Luis Fabiano vorausging, hat diese WM noch nicht erlebt. In der brasilianischen Stilkritik aber überwog die Klage über einen eklatanten Mangel an Übersteigern, Hüftwacklern und Sohlenstreichlern.

Wichtiger als das schöne Spiel ist für Carlos Dunga, „dass das schöne Spiel auch kontrolliert werden muss“. Kontrolle ist keine brasilianische Primärtugend, doch wie wichtig sie ist, das bekam die Seleçao vor vier Jahren bei der WM in Deutschland zu spüren, als Ronaldinho und Ronaldo dem Trainer-Altmeister Carlos Alberto Parreira auf der Nase herumtanzten und nach dem Viertelfinale nach Hause fuhren. Ein paar Wochen später übernahm Carlos Dunga den Job, ohne jede Trainererfahrung. Dem brasilianischen Verband war klar, worauf er sich dabei einließ: Keine Mätzchen mehr, alles wird dem Erfolg untergeordnet. Für flatterhafte Künstler wie Ronaldinho war kein Platz im WM-Aufgebot. Obwohl sich sogar Staatspräsident Lula da Silva für ihn einsetzte.

Brasilien ist dazu verdammt, nicht nur erfolgreich zu spielen – sondern auch schön

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