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Sport: Kraulen, kraulen, kraulen

Von Christine-Felice Röhrs Potsdam. Die Frauen haben Gänsehaut.

Von Christine-Felice Röhrs

Potsdam. Die Frauen haben Gänsehaut. Sie stehen im Badeanzug auf der Terrasse des „Seekrugs“. Über den Templiner See zieht ein kalter Wind an diesem Morgen. In zehn Minuten beginnt die EM im Freiwasser, dann müssen sie rein in die grauen Wellen: 25 Kilometer Kraul, links um die gelben Bojen herum, rechts um die roten. Lungen und Schultern werden schmerzen, und das Wasser ist kalt heute, mit nur 19 Grad.

Die Cremeschlacht beginnt. Die Trainer holen große Töpfe mit gelber Salbe heraus und klatschen sie den Sportlerinnen auf die Haut. „Sie hilft gegen die Kälte“, sagt eine große, fröhliche Holländerin. Das ist Edith van Dijk, eine der Favoritinnen. Eine andere Favoritin steht ganz hinten auf der Terrasse: Britta Kamrau, Zweite im Weltcup, die für Deutschland startet. „Doch, eine Medaille möchte ich schon haben“, sagt sie. Aber die Konkurrenz ist stark. Mit Angela Maurer ist die Weltcup-Führende da. Und Edith van Dijk hat schon vier Mal EM-Silber geholt. „Five minutes to race“, ruft der Ansager. Er gibt sich redlich Mühe, Spannung aufzubauen. Dumm nur, dass die Terrasse halb leer ist. Freiwasserschwimmen, dazu noch am Werktag, ist eine einsame Sache.

Die Frauen hüpfen mit den Füßen voran vom Steg, und die Spanierin brüllt, „venga, chicas“ und irgendwas von „frio". Beeilt Euch, Mädels, schweinekalt hier drin. Eine Frau schwenkt eine Holland-Flagge und ruft „Ediiith", die Startpistole knallt, das Feld macht sich in einem Schwall weißer Gischt davon. Und plötzlich herrscht Stille am Ufer.

Langstreckenschwimmen ist nicht ohne Grund eine Randdisziplin. Weit entfernt sehen die Zuschauer höchstens Arme, Köpfe und eine Armada von Booten, oft nicht einmal das. Vielleicht ist dieser Sport nur etwas für Phantasiebegabte, für Menschen, die sich vorstellen können, was da draußen für ein Kampf tobt: Kraulen, kraulen, kraulen, das Gesicht unter Wasser, den Coach im Ohr, „zieh, zieh“, alle 50 Züge nach der Richtung gucken, und die Brille färbt sich grün von den Algen.

Nur wenige leiden mit, am Ufer. Veroni van Goor ist eine von ihnen. Sie war es, die am Start die Holland-Fahne geschwenkt hat, und sie ist die Mutter von Hans van Goor, dem Trainer und Verlobten der Holländerin van Dijk. „Edith will diesmal unbedingt Gold holen“, sagt sie. Nächstes Jahr sei nämlich Hochzeit. Und dann kommen vielleicht schon Enkel. Auf jeden Fall ist Sohn Hans mit auf dem Boot und feuert an. Es scheint zu helfen, denn Edith van Dijk zieht allen davon. Der Rest ist Warten. Die Omega-Uhr mit den großen Digitalziffern läuft. Alle Dreiviertelstunde passieren die Schwimmer die Seeterrasse, dann stürzen die Fotografen mit halbmeterlangen Objektiven ans Ufer.

Und wieder Warten. Van Dijk führt immer noch, meldet Peter Wichert, der den Sprecher macht. Wichert erkennt auch aus der Ferne, was all die bunten Gestalten auf den Booten so machen. Da, da und da, das sind Schiedsrichter. Die passen auf, dass sich die Schwimmerinnen nicht an den Booten festhalten und dass sie nicht treten oder kneifen. Im Pulk zu schwimmen, ist hart.

Eine Stunde und eine Minute braucht van Dijk für ihre erste Runde. „Ein höllisches Tempo“, sagt Axel Mitbauer. Er ist der Trainer von Angela Maurer. Wahrscheinlich werden nicht alle durchhalten, sagt er. Maurer schon, da ist er sicher, sie hat ihre Kilometer geschrubbt, 100 die Woche. Eine Stunde später wird die erste Schwimmerin herein gebracht. Die Wellen haben ihr gegen das Handgelenk geschlagen, es ist geschwollen. Die nächste wird bald darauf aufgegriffen. In Goldfolie gehüllt wie ein Lawinenopfer stützt ein Sanitäter sie den Steg entlang.

Van Dijk führt immer noch. Viele haben gedacht, die Holländerin wäre es zu schnell angegangen. Doch sie hält durch, obwohl die Arme immer langsamer ins Wasser klatschen. Als die Russinnen Olessia Schaligina und Natalia Pankina als Zweite und Dritte ins Ziel kommen, ist Edith van Dijk schon lange da. Fünf Stunden, 27 Minuten und 34 Sekunden hat sie gebraucht, um Europameisterin zu werden. Angela Maurer wird Siebte. Es sei das schlechteste Rennen ihres Lebens gewesen, sagt sie zwischen zwei gequälten Atemzügen. Edith van Dijk wird da gerade von ihrer Schwiegermutter in spe umarmt. Die Siegerin kann sogar noch laufen.

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