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Fitschen

© dpa

Läuferleben: Athleten im Alltag: Hecheln oder Pilze sammeln

Der eine hat zehn Jahre studiert, der andere fühlt Millisekunden. Läufer und Sprinter pflegen auch im Alltag ein anderes Tempo. Zwei Athleten erzählen.

Es sind noch fünf Minuten bis zum vereinbarten Gesprächsbeginn, da ruft er schon an. „Ich sitze am Fenster“, sagt Marc Blume und klingt ein wenig ungeduldig. Jan Fitschen kommt 20 Minuten später. Er nimmt im Sessel Platz, als habe er vor, eine Weile zu bleiben. Marc Blume dagegen sitzt vorgebeugt, die Knie aneinandergedrückt. Es gehört nicht viel dazu sich vorzustellen, wie er mit einem Mal nach vorn schnellt.

Marc Blume, 34, ist Sprinter. In seiner aktiven Zeit beim TV Wattenscheid 01 – dort arbeitet er heute als Trainer – lief er die 100 Meter in 10,13 Sekunden und wurde mehrmals Deutscher Meister. Diesen Titel gewann auch Jan Fitschen, 31. Er ist Langstreckenläufer beim selben Verein, 2006 wurde er Europameister über 10 000 Meter, seine persönliche Bestzeit: 28:10 Minuten. Was Blume und Fitschen eint, ist der Ehrgeiz, den es in jedem Leistungssport braucht. Was sie trennt, ist ihr Tempo. „Wenn ich etwas will, dann will ich es sofort“, sagt Blume. Dagegen sagt Fitschen: „Je mehr man sich quält, desto toller ist es.“ Es käme auf einen Versuch an, herauszufinden, was die kurze und lange Strecke aufs Leben angewandt bedeuten – passend zu den Leichtathletik-Wettbewerben, die gerade bei den Olympischen Spielen laufen.

Imponiergehabe kennen Langstreckler nicht

Marc Blume
Hechler. Sprinter Marc Blume will ankommen und nicht unterwegs sein.

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Wie er sich neulich im Zug gelangweilt hat. Die Zeitschriften, die er sich extra eingepackt hatte, hatte er im Nu durchgeblättert, und dann fiel Marc Blume nichts mehr zu tun ein. Außer zu warten, dass der Zug in den Bahnhof einlaufen würde. Warten aufs Ziel, viereinhalb Stunden lang. Durch seinen Sport ist Blumes Empfinden in kleinere Einheiten getaktet. „Ich kann Millisekunden fühlen“, sagt er. Das muss er auch, auf 100 Metern entscheiden sie zwischen Sieg und Niederlage. Fragt man Fitschen, wann er sich das letzte Mal gelangweilt habe, überlegt er lange und sagt dann: „Weiß ich nicht mehr. Ist eine Weile her.“ Dabei könnte er sich täglich langweilen, bei jedem Training, jeder der gleichförmigen Runden. Fitschen formuliert es anders. „Da ist unheimlich viel Zeit zu denken“, sagt er. Genauso viel Zeit zu verzweifeln: Er denke jedes Mal ans Aufhören, sagt Fitschen. Denke dann dagegen an. Gedanken und Widergedanken, bewusst gesetzt, alle Runden, bis zum Ende.

Wie viel Gedanken in 10,13 Sekunden passen, weiß Marc Blume nicht. Er will es auch nicht wissen, Gedanken sind gefährlich. Unter Sprintern gibt es immer einen, der vor dem Start die Muskeln hin- und herträgt und versucht, die anderen zu verunsichern. „Du humpelst ja. Hast du was an der Achillessehne?“, fragt er etwa. „Wenn du anfängst darüber nachzudenken“, sagt Blume, „hast du verloren.“ Dieses Imponiergehabe kennt man unter Langstreckenläufern nicht. Vielleicht, weil sie nicht so viel Muskelmasse herzeigen können, Jan Fitschen ist schmal und drahtig. Vielleicht weil für Langstreckenläufer weniger der andere der Gegner ist, sondern sie sich vor allem selbst besiegen müssen. Vielleicht auch, das glaubt Fitschen, weil sein Sport Demut lehrt. „Sprinter haben nie die Schnauze voll gehabt und mussten noch fünf Kilometer weit laufen“, sagt er. „Bei uns sind nach der Hälfte alle ganz, ganz klein.“

Ankommen, nicht unterwegs sein

1500 Meter war die längste Strecke, die Marc Blume gelaufen ist. Weiter reicht für ihn der Sinn des Laufens nicht. „Mein Ziel ist es anzukommen, nicht unterwegs zu sein“, sagt er. Der Sprintermodus setzt sich außerhalb des Stadions fort. Zum Beispiel, als er sich einen Laptop kaufte. „Da dachte ich am Morgen, dass ich einen will, und abends hatte ich ihn.“ Jan Fitschen hat Physik studiert, zehn Jahre hat das gedauert. Immer wieder hat er überlegt aufzuhören, wie im Rennen, wenn nach einer geschafften Runde gleich die nächste kommt. Besonders stark war dieser Wunsch, als er 2006 in Göteborg Europameister wurde. Danach, sagt er, hätte er endlich Geld mit seinem Sport verdienen können. Trotzdem studierte er weiter. Fähigkeit zum Belohnungsaufschub nennen es Psychologen, wenn einer zugunsten eines großen fernen Ziels bereit ist, in der Gegenwart Verzicht zu üben. Jan Fitschen nennt es schlichter, er sagt, seine Zähigkeit habe er durch den Sport gelernt. „Ich bin nicht so schnell, aber ich komme immer an.“

„Pilzesammler“ nennen die Blumes die Fitschens, „Hechler“ heißt es umgekehrt. Marc Blume ist stolz darauf, dass es in seinem Sport vor allem um Talent geht, Jan Fitschen gefällt es, dass er immer wieder seinen Willen beweist. Auf die Frage, ob sie miteinander tauschen würden, schütteln sie die Köpfe, und das tun sie beide gleichermaßen lang und schnell.

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