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Sport: Lass uns ein Wunder sein

Sönke Wortmanns WM-Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ schreibt die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft nicht neu, aber er liefert viele hübsche Anekdoten

Große Geschichte beginnt oft im kleinen Rahmen. Im Fall der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist es ein Rasenplatz in Genf. Zwei Wochen sind es noch bis zur Weltmeisterschaft, und die Deutschen üben Elfmeterschießen mit Handicap. Jeder Schütze sagt vorher im Mittelkreis an, wohin er schießen wird. Wer nicht trifft, muss die anderen beim Abendessen bedienen. Tim Borowski sagt: „Rechts unten“, und als er sich den Ball auf den Punkt gelegt hat, stellt sich Timo Hildebrand in eben diese rechte Ecke. Der Torwart lacht, die Kollegen im Mittelkreis johlen und brüllen: „Schießen! Schießen!“ Also schießt Borowski, scharf und platziert in die Lücke zwischen dem Pfosten und Hildebrands Fuß. Applaus.

Ein paar Wochen später tritt Tim Borowski noch mal an zum Elfmeter, aber diesmal ist nicht Training sondern WM-Viertelfinale gegen Argentinien. Der Bremer läuft an wie auf dem Genfer Trainingsplatz, aber vor 75 000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion ist alles viel leichter, denn der argentinische Torhüter weiß ja nicht, wohin Borowski schießen wird, natürlich rechts unten. Treffer, knappe Jubelgeste, alles wie im Training. Weil alle Deutschen ihre Elfmeter so souverän verwandeln, erreicht der WM-Gastgeber das Halbfinale. (Natürlich auch, weil Torhüter Jens Lehmann via Schmierzettel bestens über die argentinischen Schützen unterrichtet ist, aber das wussten wir ja schon.)

Wahrscheinlich hätte nie jemand die Vorgeschichte zu Borowskis Elfmeter erfahren, wäre nicht Sönke Wortmann mit seiner Kamera dabei gewesen. Der Regisseur war sieben Wochen lang immer und überall dabei: auf dem Trainingsplatz und in der Kabine, im Hotel und im Bus. Ein paar Mal führen auch Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger die Kamera, bei diesen Szenen blinkt unten der Schriftzug „Schweinicam“ oder „Poldicam“. Der aus alledem entstandene Dokumentarfilm „Deutschland. Ein Sommermärchen“ kommt am nächsten Donnerstag in die Kinos. Wortmann schreibt die Geschichte der WM nicht neu, aber er liefert viele hübsche Anekdoten. Wer hat schon gewusst, dass der sonst so verkniffene Oliver Kahn eine Stimmungskanone beim Beachvolleyball ist, Jürgen Klinsmann sich beim Tischtennis ähnlich ungeschickt anstellt wie früher beim Ballstoppen und Angela Merkel im Umgang mit Fußballspielern so gar nichts mehr hat von der Kälte und Souveränität im politischen Alltag. Linkisch macht sie der Mannschaft vor dem Eröffnungsspiel gegen Costa Rica ihre Aufwartung. Beim Händeschütteln schaut sie scheu nach unten, und beim Gruppenbild mit der Nationalmannschaft ruft sie tatsächlich: „Cheeeeese!“

In diesen Frühsommertagen kurz vor der WM ist Deutschland noch in einer Findungsphase. Das Publikum ahnt noch nichts vom Märchen, und die Nationalspieler haben noch keinen halbgötterähnlichen Status. Miroslav Klose lässt sich die Haare schneiden, sieht ja nicht so toll aus, sagt die Friseurin und fragt, ob er denn bei Bayern München spiele. Nein, Werder Bremen, antwortet Klose, und wie er da so brav auf dem Stuhl sitzt, kann man sich schwer vorstellen, dass er ein paar Wochen später als WM-Torschützenkönig gefeiert wird. Der kollektive Ausnahmezustand wird erst nach dem zweiten WM-Spiel ausgerufen, nach dem 1:0 über Polen. Jürgen Klinsmann leitet den Abend ein mit der politisch nicht ganz korrekten Aussage, den Einzug ins Achtelfinale „werden wir uns von keinem wegnehmen lassen, und erst recht nicht von den Polen!“ Überhaupt kann der nette Herr Bundestrainer in der Wortwahl recht rabiat sein kann. Ekuador, sagt Klinsmann, werde „was auf die Fresse bekommen“, und Argentinien habe „die Hosen voll“. Längst hat er die Kamera vergessen.

Die Kamera erreicht die Katakomben des Dortmunder Stadions. Der gesperrte Torsten Frings darf vor dem Halbfinale gegen Italien die letzte Ansprache an die Mannschaft halten: „Es gibt vier Gründe, warum wir heute gewinnen werden“, brüllt der Bremer: „Kampf! Wille! Mut! Und wir sind ein Team!“ Auch im Kinosessel hofft man: Die schaffen das! Sie schaffen es natürlich nicht, Wortmann erspart dem Publikum nicht die ans Herz gehenden Szenen, die beiden italienischen Tore, die Leere in der Kabine. Die immer noch unbeholfene Kanzlerin kommt herein, gefolgt vom nicht minder unbedarften Bundespräsidenten. Marco Materazzi wartet in den Katakomben auf Michael Ballack, er will und bekommt das Trikot des deutschen Kapitäns. (Ein paar Tage später bewirbt er sich auch um das Hemd des französischen Kapitäns Zinedine Zidane, aber diese Geschichte geht bekanntlich anders aus.)

Zum Schluss gibt es noch einen kleinen Streit. Wort- und gestenreich argumentiert Michael Ballack gegen eine Abschiedsparty auf der Berliner Fanmeile, er will nach Hause. Oliver Kahn stimmt zu, und für einen Augenblick sieht es so aus, als werde sich die Mannschaft nach dem Spiel um Platz drei zerstreuen. Doch Torsten Frings, ausgerechnet der sonst eher maulfaule Bremer, hält ein leidenschaftliches Plädoyer für Berlin – und setzt sich durch. Das Märchen endet am Brandenburger Tor.

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