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Sport: Lausitzring: "Der tote Mann fährt immer mit"

Wo fängt man an bei einer Geschichte, die dort handelt, wo sich Realismus und Aberglaube begegnen? Dort, wo das Leben auf den Tod trifft.

Wo fängt man an bei einer Geschichte, die dort handelt, wo sich Realismus und Aberglaube begegnen? Dort, wo das Leben auf den Tod trifft. Vielleicht empfiehlt es sich, mit jemandem zu sprechen, der sich in diesen Grenzbereichen von Berufs wegen auskennt. Vielleicht sollte man den Pfarrer fragen.

Das evangelische Pfarrhaus von Klettwitz liegt nur eine vierminütige Autofahrt von der Haupttribüne des Lausitzrings entfernt. Bei Ostwind kann Christian Schuke in seinem Garten die Autorennen hören. "Dann können Sie nicht im Gartenstuhl sitzen und in Ruhe ein Buch lesen", berichtet der evangelische Pfarrer. In seinem Büro riecht es nach abgegriffenen Büchern und alten Möbeln. Die letzte Innen-Renovierung des Pfarrhauses muss schon eine Weile zurückliegen. Die Moderne - in Gestalt der Rennstrecke vor seiner Haustür - ist für Schuke jedoch auch problematisch. Aber das hängt mit seinem Beruf zusammen. Der Pfarrer sagt: "Ich bin ein Gegner von Extremsportarten - um des Lebens willen." Etwas leiser fügt er hinzu: "Und ich sehe mich jetzt bestätigt."

Vor einer Woche verlor der Italiener Alessandro Zanardi bei einem Unfall auf dem Lausitzring seine Beine. Erst am Donnerstag erwachte der Fahrer der ChampCar-Serie, einer spektakulären Rennserie aus den USA, in einer Berliner Unfall-Klinik aus dem künstlichen Koma. Nach diesem Unfall beläuft sich die Bilanz des Lausitzrings innerhalb von fünf Monaten auf zwei Tote und einen Schwerverletzten. "Ein großer Schicksalsschlag für uns", sagt Ilka Wendlandt. Sie ist die Pressesprecherin des Lausitzrings und steht, weil Geschäftsführer Hans-Jörg Fischer trotz des Unfalls seit Mittwoch wegen einer Auslandsreise keine Auskunft gibt, in den Büroräumen unter der Haupttribüne misstrauisch Rede und Antwort. Bei ihr hören sich die traurigen Ereignisse erstaunlich nüchtern an. Einmal sagt sie: "So zynisch das ist: Es wird nicht der letzte Schicksalsschlag auf dem Ring gewesen sein." Als wären Tote und Verletzte eine jährliche Kfz-Steuer, mit der eine Motorsportsaison zu bezahlen ist. Dafür betont sie nach Zanardis Unfall immer wieder: "Es lag nicht an der Strecke."

Das sagen alle. Sogar der Pfarrer aus Klettwitz: "Man muss fairerweise sagen, dass das Bauwerk an den Unfällen nicht schuld ist." Beim Tod des Italieners Michele Alboreto habe die Technik versagt, später, als der Streckenposten tödlich verunglückte, der Mensch. Niemand kann sich erklären, warum der 43-Jährige bei einem Test für die Deutsche Tourenwagen-Meisterschaft auf die Strecke lief. "Er hatte endlich Arbeit gefunden", sagt der evangelische Geistliche aus Klettwitz. Mehr kann er nicht über den Mann aus dem benachbarten Meuro sagen. "Er war kein Christ, die Beerdigung hat die Behörde übernommen."

Mit dem Motorsport kam auch der Tod in die Niederlausitz. Dabei knüpfen sich bei der Bevölkerung große Hoffnungen an den Ring. "Er bedeutet Zukunft", sagt Amtsdirektor Siegurd Heinze vom Amt Schipkau, das die sechs Anrainergemeinden verwaltet. Früher beschäftigte der Braunkohletagebau die Menschen in der Region, nach dessen Ende beträgt die Arbeitslosigkeit rund 23 Prozent. Kein Wunder, dass die Einheimischen das Versprechen von 2000 Arbeitsplätzen rund um den Lausitzring begrüßten. So viele sollen auch durch den Nürburgring ihr Auskommen haben. "Doch die Euphorie war größer als die Wirklichkeit", sagt der evangelische Pfarrer von Klettwitz. Gegenwärtig gibt es auf dem Lausitzring lediglich 45 Arbeitsplätze. Das Dekra-Testzentrum, das gerade gebaut wird, bringt seine Belegschaft aus Dresden mit und schafft nur fünf neue Arbeitsplätze. Beim Hotelneubau gibt es einen Baustopp.

Und dann sind da noch finanzielle Probleme. Im April beantragte der Lausitzring 20 Millionen Mark Fördermittel vom Land Brandenburg wegen zusätzlicher Kosten. 310 Millionen Mark hatte der Bau, in den auch die Berliner Bankgesellschaft investierte, bis dahin bereits verschlungen. Doch es bewegt sich auch etwas in Sachen Tourismus und Gastronomie. Wer kann, vermietet in Klettwitz und Umgebung Zimmer oder verkauft Getränke bei Motorsport-Veranstaltungen und Rockkonzerten. Der Amtsdirektor sagt: "Der Ring wirkt sich nicht sofort auf die Arbeitslosenstatistik aus, aber er ist psychologisch sehr wichtig: Endlich befinden sich die Menschen hier wieder im Mittelpunkt des Interesses."

Da kommt es ungelegen, wenn die Rennstrecke das Image einer Unglücksstrecke bekommt. "Fluch über dem Lausitzring", nannte der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) eine Sendung nach Zanardis Unfall. Weil man sich die Häufung der Unfälle nicht erklären kann, muss das Unerklärbare herhalten: der Aberglaube. Pfarrer Schuke denkt jedoch, dass die Einheimischen gegen so etwas gefeit sind. "Bei uns ist nur wenig Mystik vorhanden, das liegt an unserer DDR-Geschichte, die alles wissenschaftlich erklärte."

Das geht auch diesmal. So gab es auf dem Nürburgring in diesem Jahr sogar drei Tote bei Privatrennen. Oder man kann die Unglücke so fatalistisch sehen wie die Betreiberin des Lokals unter der Haupttribüne des Lausitzrings. "Der tote Mann fährt immer mit", sagt sie. Doch weil Brandenburgs größtes Investitionsprojekt neu ist und besonders beobachtet wird, rücken die zwei Toten und der Schwerverletzte besonders in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Vom ChampCar-Rennen werden nicht die 150 000 Besucher an drei Tagen oder der Sieger Kenny Brack im Bewusstsein bleiben. Was bleibt, ist Alessandro Zanardi, der keine Beine mehr hat. Da hilft es nichts, wenn die Pressesprecherin von einer tollen Saison berichtet und sagt, "wir sind sehr zufrieden". Im Gegenteil, es klingt nur makaber.

Vor der Eröffnung im vergangenen Jahr hatte man noch beim evangelischen Pfarrer von Klettwitz angefragt, ob er die neue Rennstrecke weihen würde. "Es sollte etwas Geistliches passieren", erinnert sich Schuke. Er weigerte sich. Um das zu erklären, muss er erst einmal vom Tisch aufstehen und in die Theologie abschweifen. "Die evangelische Kirche weiht keine Dinge", erklärt der Pfarrer, "weil man nach einer Weihe assoziieren könnte, dass diesem Gegenstand nichts passiert." Dabei wisse doch jeder, dass beim Autofahren ein Unfall geschehen könne. "Ein geweihtes Auto ändert daran nichts." Die katholische Kirche kennt solche Bedenken nicht, weshalb die Betreiber des Lausitzrings schließlich einen katholischen Priester holten, der den Ring weihte. Es hat wohl nicht geholfen.

Christian Schuke hat nicht mehr viel mit dem Ring vor seiner Haustüre zu tun. Nun, da er die Haupttribüne vom Garten aus sehen kann, möchte er keine Einwände mehr erheben. "Man muss mit dem Ring leben, so wie er ist." Allerdings rechnet er damit, eines Tages nach einem Unfall zur Rennstrecke gerufen zu werden. "Ich würde sofort für seelsorgerische Gespräche zur Verfügung stehen." Der jüngste Unfall machte ihn stutzig. "Wie war der Name des Verunglückten?", fragt Schuke, und holt sich ein Blatt Papier und einen Stift. Dann lässt er sich buchstabieren: Alessandro Zanardi, Alessandro mit einem l und zwei s. Schon nach dem Unfall von Michele Alboreto habe er gedacht, dass man sich diese Namen merken müsse. Als Vorbereitung. "Es könnte der Tag kommen, an dem man aller gedenkt, die auf dem Ring umgekommen sind."

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