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Vorgabe erfüllt. Der Berliner Robert Harting gewann mit dem Diskus in London eine von elf deutschen Goldmedaillen. Foto: dapd

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Lehren von London: Ein reiches Land sehnt sich nach Gold

Der deutsche Sport muss sich einigen Grundsatzfragen stellen. Was will er erreichen? Sind Medaillen an der Spitze wichtiger als Bewegung in der Breite? Und was soll das kosten?

Von Christian Hönicke

Deutschland ist ein geteiltes Land. Zumindest für Harald Schmid. Der einstige Weltklasse-Hürdenläufer unterscheidet aber nicht zwischen Ost und West oder Arm und Reich, er teilt die Deutschen in Aktive und Inaktive. „Wir sind zwar auf der einen Seite ein sehr sportliches Volk“, sagt Schmid, „auf der anderen Seite hat aber auch eine große Bewegungsarmut Einzug gehalten, besonders bei Kindern und Jugendlichen.“ Und wenn man sich diese Gesellschaft vor Augen halte, „dann dürfen wir einfach nicht erwarten, dass wir im olympischen Medaillenspiegel ganz vorne liegen“.

Die Olympischen Spiele von London sind vor einer Woche zu Ende gegangen. Geblieben sind 44 Medaillen, Rang sechs, das Gerangel um Förderung, Ziele und Vorgaben und die Frage, was der Sport Deutschland gibt – und was Deutschland dem Sport.

Wenn Harald Schmid auf die Zukunft des deutschen Sports blickt, schaut er nicht nur nach ganz unten, in die Kindergärten und Schulen, in denen der Sport „eine untergeordnete Rolle spielt“ und wo die Inaktiven immer mehr werden. Er schaut auch nach ganz oben. Zu Thomas Bach, dem Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), früher mal ein Aktiver. Der hatte sich in London bemüht, die sogenannten Zielvereinbarungen über 86 Medaillen zu erklären, die der DOSB mit dem Bundesinnenministerium und den Sportverbänden getroffen hatte. „Ich habe ziemlich lachen müssen, als Bach zu dem Wirbel um die Zielvereinbarungen gesagt hat: Dann müssen wir das halt anders nennen“, sagt Schmid. „Aha, die Wortwahl war also schlecht – ein bürokratischer Schlenker. Das hat mir gezeigt: Da wird in bürokratischen Kategorien gedacht. Wenn man Weltspitzenleistungen erzielen will, muss man sich von dieser Art Denken lösen.“ Aber das ist gar nicht so einfach, denn niemand weiß so richtig, was er denn denken soll über die Deutschen und den Sport.

Selbst der oberste Sportler der Republik gerät da ins Schlingern. Bundesinnen- und -sportminister Hans-Peter Friedrich erklärte zwar, in Deutschland gebe es keinen Staatssport. Zumindest nicht mehr, seit mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch der deutsch-deutsche Bruderkampf als Antrieb weggefallen ist. Das wiedervereinigte Deutschland ist eine aufgeklärte Wirtschaftsnation, die sich nicht mit Medaillen profilieren muss. Andererseits ist der deutsche Staat mit mehr als 130 Millionen Euro der größte Finanzier des Spitzensports und vereinbart mit den Sportverbänden Medaillenziele. Denn nur Zuschauer sein, wenn andere um Gold kämpfen, das will auch Friedrich nicht.

„Die Frage ist: Welchen Sport wollen wir?“, sagt Schmid. „Wollen wir Sport um jeden Preis, Hauptsache, wir stehen vorne? Dann geraten wir sehr schnell in die Diskussion um Doping. Einer müsste mal sagen: Leute, so sieht unser Sport aus, damit leben wir und das vertreten wir.“ Weil das aber niemand so richtig kann oder will, fühlen sich die Sportler im Niemandsland zwischen Anspruch und Wirklichkeit alleingelassen. Das hat die Kritik vieler Athleten am deutschen Sportfördersystem noch während der Spiele gezeigt.

Für Frank Busemann sieht der deutsche Sport genau so aus, wie er sich in London gezeigt hat. „Sechster im Medaillenspiegel, das ist der Platz, auf dem wir uns wohl langfristig einpegeln werden“, sagt der olympische Silbermedaillengewinner im Zehnkampf von 1996. „Mehr ist nur mit großen Aufwendungen drin, das steht und fällt mit dem Geld.“ Weil andere Nationen erfolgreichen Sport durchaus als Staatsaufgabe begreifen, ist der Kampf um olympische Medaillen inzwischen so hart geworden, dass deutsche Sportler ganz vorn nur noch schwer mithalten können. „Die internationale Leistungsdichte ist auch bei den Amateuren inzwischen so hoch, dass man nur noch eine Chance hat, wenn man unter professionellen Bedingungen trainiert“, sagt Horst Melzer. Der frühere Olympiaschwimmtrainer hat in Essen unter anderem Mark Warnecke in die Weltspitze geführt. Er fordert: „Man muss sich neue Wege einfallen lassen, wie man olympische Amateursportarten fördert.“

Der Hauptfeind der Aktiven? Die Bürokratie, sagen ehemalige Trainer

DOSB-Präsident Bach hat zwar bereits eine „umfassende Überprüfung des Fördersystems“ angekündigt und Mehrbedarf beim Bundesinnenminister angemeldet, aber „man darf nicht immer nur nach mehr Geld rufen“, sagt Melzer. „Man muss erst mal eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen, was mit den 130 Millionen tatsächlich passiert.“ So richtig konnte das in London nicht einmal DOSB-Generaldirektor Michael Vesper erklären, der nebulös von „Förderpotenzialen“ sprach, nach denen das Geld verteilt würde.

Dabei ist für Horst Melzer klar, warum sich die Deutschen immer schwerer mit dem Sport von der Breite bis in die Spitze tun. Schon die sportliche Grundausbildung sei schlecht, die Talentsichtung erfolge dann per Zufall durch unerfahrene Sportlehrer. Später fehlten qualifizierte und gut bezahlte Trainer. Und mit 14, 15, 16 Jahren, wenn es im Schwimmen in den Hochleistungsbereich gehe, seien die Sportler überfordert. 40 Stunden Unterricht und 20 Stunden Training pro Woche, das sei zu viel für einen jungen Körper. Melzer schlägt vor, den Unterricht vor Olympia zu reduzieren und später nachzuarbeiten. Doch das erlaube an seinem Stützpunkt Essen das Bundesland Nordrhein-Westfalen nicht.

Die Bürokratie ist für Melzer ohnehin der Hauptfeind der Aktiven, auch im Training. „Es kann nicht von oben nach unten gehen wie in der DDR, nach dem Motto: So habt ihr jetzt zu trainieren“, ereifert er sich. „Der Herr Klopp würde sich vom DFB auch nicht sagen lassen, wie er zu trainieren hat. Aber bei uns werden in den Fachverbänden ganz klare Trainingsvorgaben gemacht.“ Gleichmacherei nennt er das, die Trainer vor Ort bräuchten mehr Freiheiten, Spitzenathleten müssten individuell gefördert werden. Auch Harald Schmid hält nichts von Training im Gleichschritt: „Man braucht Typen, die über die Grenzen hinaus denken. Vielleicht würde uns mal ein richtiger Star guttun. Man muss nicht ganz so wie Usain Bolt werden, aber vielleicht ein kleines bisschen.“

Doch wer ein Star werden will, der versucht es in Deutschland lieber vor dem Mikrofon oder der Kamera. Die deutschen Medaillengewinner von London waren im Schnitt über 27 Jahre alt, zwei Jahre älter als noch in Peking. Hoffnungsvolle Teenager, die vielleicht in Rio in vier Jahren nach einer Medaille greifen könnten, wurden kaum gesichtet. Frank Busemann macht auch die Wohlstandsgesellschaft dafür verantwortlich: „Früher liefen die Kinder noch draußen auf der Straße rum. Wir haben mittlerweile das Glück, dass wir noch nicht einmal mehr Treppen steigen müssen, weil überall Aufzüge sind.“

Als sozialer Aufzug taugt der Sport zudem längst nicht mehr, wenn man nicht gerade eine Karriere als Fußballprofi anstrebt. 15 000 Euro als Prämie für einen Olympiasieg (in manchen Branchen ein Monatsgehalt), darüber echauffiert sich nicht nur Judoka Ole Bischof – und die Stiftung Deutsche Sporthilfe erwägt nun sogar, diese Prämien ganz abzuschaffen. „Von einer Medaille kannst du keine Existenz aufbauen“, sagt Horst Melzer. Das Prinzip der Leistungsgesellschaft werde im Sport ausgehebelt. „Ein Spitzenmanager bekommt ein hohes Salär, ein Spitzensportler, der Werbung für sein Land macht und über Jahre Außergewöhnliches leistet, darf nicht nur mit 15 000 Euro abgespeist werden.“ Viele Talente wenden sich wegen der bescheidenen Verdienstmöglichkeiten wieder vom Sport ab. „Sie müssen sich irgendwann entscheiden: Will ich wirklich Sport machen, obwohl ich nicht weiß, wie ich meine Miete bezahlen soll?“, sagt Busemann. „Meistens gehen leider die Guten.“ Er wünscht sich mehr finanzielle Sicherheit für die Athleten, „einen Arbeitgeber, der ihnen die hundertprozentige Konzentration auf den Sport gewährleistet“. Doch die Mäzene gehen lieber in den Profifußball, für den Rest „muss man Liebhaber finden“.

Vielleicht könnten die ja durch Olympische Sommerspiele in Deutschland angelockt werden. Doch Harald Schmid ist da skeptisch. „Was könnten uns Olympische Spiele denn bringen?“, fragt er. „Warum wollte man eigentlich Winterspiele in München, was war der Grund, die tiefe Botschaft dahinter?“ Er seufzt. „Da sind wir wieder an dem Punkt, wo einer sagen müsste, was unser Ziel ist. Denn ohne Kapitän findet man keinen Hafen.“

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