zum Hauptinhalt
Schneller als der Zweifel. Bei den deutschen Meisterschaften gewann Carolin Nytra in hervorragenden 12,71 Sekunden.

© dpa

Leichtathletik: Carolin Nytra: Die Hürdenfresserin

Im vergangenen Jahr war schon die dritte oder vierte Hürde ein hohes Hindernis für sie gewesen. Inzwischen rennt Carolin Nytra angstfrei auf Hindernisse zu und ist nun Medaillenkandidatin für die EM.

Vor den Zuschauern in der Kurve, 15 Meter hinter dem Ziel, machte Carolin Nytra sogar noch einen Knicks. Ein spontaner Dank an die Fans. Dann drehte sie sich zu den Fotografen und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Startnummer: 170. Die 70 war wichtig, auf der Anzeigentafel ein paar Meter weiter stand 12,70 Sekunden. Ihre Siegerzeit über 100 Meter Hürden. Etwas später wurde sie korrigiert, 12,71 Sekunden. Egal, viel wichtiger war: Sie hatte ihren Beweis.

Vor der Haupttribüne im Braunschweiger Eintrachtstadion hatte Carolin Nytra bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften gezeigt, dass Lausanne kein Ausrutscher war. Die 12,57 Sekunden vom Diamond-League-Meeting Anfang Juli, die Zeit, nach der ihr Trainer Jens Ellrott noch einen Tag später „sprachlos“ war. Fast sprachlos. „Das war ein Ding“, brachte er noch heraus. Um zwei Zehntelsekunden hatte sie ihre Bestzeit gesteigert, die 12,57 Sekunden katapultierte sie in den Kreis der Medaillenkandidaten für die EM Ende Juli in Barcelona.

Doch diese Zeit musste sie noch einmal bestätigen, sonst würden die 12,57 Sekunden erst einmal Statistik bleiben. „Ich war unsicher nach Lausanne“, sagt Nytra. „Jetzt bin ich froh, dass ich die Zeit bestätigt habe.“

Wenn man über die Gründe redet, warum ihre Erleichterung so groß ist, muss man über Angst sprechen. Die Angst der Carolin Nytra vor der Hürde. „Ich musste lernen, die Hürde nicht als Hindernis zu sehen“, sagt die 25-Jährige. „Ich muss sie auffressen und attackieren wollen.“

Im vergangenen Jahr war schon die dritte oder vierte Hürde ein hohes Hindernis für sie gewesen. In Nytras Vorstellung viel höher als in Wirklichkeit. Sie drosselte das Tempo, weil sie Angst hatte, in die Hürden zu rennen. „Das ist ein Schutzmechanismus des Körpers“, sagte sie damals. Rüdiger Harksen versteht das gut: „Oft ist das eine Folge davon, dass man erlebt hat, wie es ist, wenn man in eine Hürde rennt.“ Harksen ist einer der beiden Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbands, früher war er zuständig für den Hürdensprint der Frauen.

Jetzt sagt Harksen: „Carolin ist in eine neue Dimension vorgestoßen.“ Sie hat das nicht allein geschafft, ein Psychologe hat dabei enorm geholfen. Er nimmt ihr die Ängste, ganz langsam, ganz geduldig. Sie hat im Training immer wieder Sprints mit acht Hürden gemacht. Die Geschwindigkeit zu halten, das hämmerte sie sich ein, sie musste einen Automatismus entwickeln. Im Wettkampf läuft sie über zehn Hürden, aber diese psychische Belastung lässt sich im Training nicht simulieren. Das Selbstbewusstsein bei den letzten Hürden musste sie sich im Wettkampf erarbeiten.

In Lausanne zum Beispiel. Sie lief dort gegen Priscilla Lopes-Schliep, direkt neben ihr, fast die psychische Maximalherausforderung. Die Kanadierin ist Vize-Weltmeisterin. Aber Nytra hielt dagegen, bis zur letzten Hürde. Die Kanadierin gewann mit einer Hundertstelsekunde Vorsprung.

Und nun Barcelona, die EM. Nytra ist eine Medaillenkandidatin und nimmt diese Rolle auch gerne an. „Ich will Edelmetall“, sagt sie. Die 12,71 Sekunden lief sie in Braunschweig bei leichtem Gegenwind, „ich kann noch etwas ausreizen“.

Nebenbei schlüpfte sie auch noch in eine andere Rolle: die der eigenständigen Athletin. Im vergangenen Jahr noch war sie immer als Partnerin des Weitspringers Sebastian Bayer wahrgenommen worden. Sie sind das Traumpaar der deutschen Leichtathletik geworden. In Braunschweig gab es keinen sportlichen Gleichschritt. Bayer, Hallen-Europarekordler, kämpfte verzweifelt um die EM-Norm, während seine Freundin ihren Knicks machte. Die Norm verpasste er klar, nach Barcelona darf er als Athlet höchstens durch einen Gnadenakt des Verbands. Er könnte seine Freundin als Tourist begleiten, aber das ist ein heikles Thema. Es berührt Bayers Selbstverständnis. Ein Spitzensportler als privater Reisebegleiter? „Darüber“, sagt Nytra, „reden wir erst mal lieber nicht.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false