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Silbermedaillengewinnerin Gina Lückenkemper: Nicht nur mit ihren Beinen schnell ist, sondern auch mit ihrem Mundwerk. aus Deutschland jubelt über Silber.

© Michael Kappeler/dpa

Leichtathletik-EM in Berlin: Sport statt Spektakel

Auch wenn nicht alles perfekt war: Die Leichtathletik-EM war erfolgreich, weil sie die Nähe zu den Menschen suchte. Der Vergleich mit dem Fußball ist da hinfällig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Martin Einsiedler

Natürlich hat es bei diesen Leichtathletik-Europameisterschaften Bilder gegeben, die tatsächlich vom Untergang der olympischen Kernsportart künden könnten. Bilder vom dieses Mal so tapsig-traurig wirkenden Maskottchen Berlino, wie er vormittags eine in der Qualifikation gescheiterte Athletin tätschelt. Im Hintergrund zu sehen: abertausende leere Sitzreihen im Berliner Olympiastadion. Oder Bilder von verstörten Weitspringern, die nicht einmal darauf vertrauen können, dass ihre Weiten korrekt gemessen werden. Mangelndes Zuschauerinteresse und unprofessionelle Organisation als Symbol des generellen Bedeutungsverlustes der Leichtathletik.

Doch das ist nicht der Gesamteindruck, der von den Leichtathletik-Europameisterschaften bleiben wird. Es ist auch keine Frage der Perspektive, also ob das Glas nun halbleer oder halbvoll ist. Das Olympiastadion jedenfalls, das bei der EM eine Kapazität von knapp über 60.000 Zuschauern hatte, war an den Finalabenden unter der Woche mit knapp 40.000 und an diesem Wochenende mit im Schnitt rund 45.000 Zuschauern besucht. Das Glas war daher fast zu 80 Prozent voll. Rechnet man das fast jeden Abend mit 3.000 Menschen besuchte Mini-Stadion am Breitscheidplatz hinzu, wird das Glas noch voller. Und dann sind da die TV-Zahlen: In der Spitze bis zu fünf Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von fast 20 Prozent entspricht, verfolgten die Wettkämpfe in ARD oder ZDF.

Aber vermutlich ist der bloße Blick auf die Zahlen ohnehin der falsche Ansatz, um die Veranstaltung in Berlin zu bewerten. Dann dauert es meist nicht lange, bis der Verweis auf den im deutschen Sportraum übermächtigen Fußball kommt. Für den interessiert sich halb Deutschland, für die Leichtathletik nur ein Bruchteil. Die – zumindest mediale – Monokultur im deutschen Sport ist schade. Aber sie ist nicht in Stein gemeißelt. Zumal sich gerade aus dem Nischendasein neue Möglichkeiten ergeben.

An den Finalabenden kamen mehr Zuschauer als zu Hertha

Nun ist das Berliner Olympiastadion ein schlechtes Beispiel, weil sich bei Spielen der Fußball-Bundesligisten Hertha BSC zuletzt nur selten mehr als 40.000 Zuschauer darin verloren. Aber jede leergebliebene Sitzschale bei dieser EM bedeutet buchstäblich, dass die Leichtathletik generell noch Platz bietet. Für Menschen, die spontan eine solche Veranstaltung besuchen wollen und nicht – wie bei internationalen Fußball-Großveranstaltungen der Fall – schon Monate im Voraus und für horrendes Geld Tickets erwerben müssen. Der Fußball ist so groß geworden, dass er den Menschen entrückt ist. Die Events, die Stadien, die Spielerinterviews, all das wurde in den vergangenen Jahren zu einem ermüdenden Einheitsbrei. Noch schauen die Menschen Fußball, aber viele lieben ihn nicht mehr.

Die Chance der Leichtathletik liegt darin, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Dazu beitragen können Athletinnen wie etwa die Sprinterin Gina Lückenkemper, die nicht nur mit ihren Beinen schnell ist, sondern auch mit ihrem Mundwerk. Oder wie die Kugelstoßerin Christina Schwanitz, Mutter von Zwillingen, die so laut und einnehmend lacht, dass der Boden zu vibrieren scheint. Es ist keine Frage, dass die Leichtathleten viel näher am Leben der Masse dran sind als die Kicker aus der Nationalmannschaft.

Leichtathletik funktioniert dann, wenn sie zum Anfassen ist

Das Konzept der Organisatoren ist daher nur folgerichtig, die Nähe zu den Menschen zu suchen. So fand am Berliner Breitscheidplatz nicht nur Public Viewing statt, sondern auch die Qualifikation im Kugelstoßen der Männer. Sportler und Zuschauer waren begeistert. Überhaupt funktionierte die Leichtathletik zuletzt immer dann, wenn sie zum Anfassen war. Zum Beispiel bei „Berlin fliegt!“, dem Leichtathletik-Länderkampf am Brandenburger Tor. Und noch besser dann, wenn Profis und Amateure vereint an den Start gingen, bei den weltweit ausgetragenen Marathonläufen. Der Berliner Marathon ist eine Institution in der Hauptstadt, eine Art Rosenmontagsumzug in Berlin.

Die Europameisterschaften haben viele dieser bewahrenswerten Facetten der Leichtathletik aufgezeigt. Auch wenn nicht alles optimal war. Man hätte erwarten dürfen, dass die Akustik im Olympiastadion funktioniert und überhaupt die Wettkämpfe besser präsentiert werden. Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London hatten es im vergangenen Jahr vorgemacht. Im Londoner Olympiastadion war alles perfekt inszeniert. Die Veranstalter dort führten mit einem mit Showacts angereicherten Programm durch den Tag. In Berlin beschränkten sich die Veranstaltungstage im Olympiastadion meist rein aufs Sportliche, weil für mehr das Geld fehlte. Während in London professionelle DJ’s das Publikum mit wummernden Bässen durch die klangvolle Stadionanlage zum Hüpfen brachten, knatterte im Berliner Olympiastadion „Oh, wie ist das schön“ durch die Lautsprecher. Auch das hat Charme, entspricht aber nicht mehr dem Standard.

Es ist also noch Luft nach oben in der deutschen Leichtathletik. Und genau das macht Hoffnung.

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